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Meinung

Folgenschwerer Streit um 14 Kilometer

Besonders gut war das Verhältnis zwischen dem aktuellen israelischen Premierminister und demokratischen US-Regierungen zu keinem Zeitpunkt. In den vergangenen Monaten und Wochen haben sich die Beziehungen zwischen dem Weißen Haus und dem Büro Netanjahus nochmals deutlich verschlechtert.
Von Boris Itkis

Für die Demokraten in den USA rückt die Präsidentschaftswahl immer näher. Die sogenannte „progressive Wählerschaft“ der Demokraten, zu der viele junge, links-progressive Wähler gehören, fordert seit vielen Monaten eine Haltung der USA im Nahost-Konflikt, die stärker auf Ausgleich ausgerichtet ist. Bidens Politik, vor allem in Bezug auf US-amerikanische Waffenlieferungen, wird als zu pro-israelisch wahrgenommen. Ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas könnte die Biden-Regierung als einen außerpolitischen Erfolg verbuchen und zugleich enttäuschte progressiv-linke Wähler motivieren, zur Wahl zu gehen und Kamala Harris zu unterstützen, so das politische Kalkül.

Nicht nur Biden sieht sich innenpolitischen Spannungen ausgesetzt. Für Benjamin Netanjahu ist die Lage nicht minder heikel. Kritiker werfen dem Likud-Chef vor, den Krieg in Gaza um seiner selbst willen aufrecht zu erhalten. Ein schnelles Ende des Konflikts würde ihn unweigerlich dazu zwingen, sich ausführlich mit der Frage nach seiner Verantwortung für die verheerenden Ereignisse des 7. Oktobers auseinanderzusetzen.

Gleichzeitig hängt ein Korruptionsverfahren wie ein Damoklesschwert über dem israelischen Premierminister. Es wird erwartet, dass Netanjahu noch in diesem Jahr vor Gericht zu Vorwürfen der Bestechlichkeit, des Betrugs und der Untreue aussagen muss. Beobachter gehen davon aus, dass sein hohes Amt ihm Vorteile im laufenden Korruptionsprozess verschaffen könnte.  

Spannungen eskalieren trotz tragischer Ereignisse

Sowohl Biden als auch Netanjahu stehen unter enormem innenpolitischem Druck. Die ohnehin schon angespannte Situation eskalierte weiter durch tragische Ereignisse am 1. September 2024. An diesem Tag fanden israelische Spezialkräfte im Gazastreifen die Leichen von sechs israelischen Geiseln, darunter der US-israelische Doppelstaatler Hersh Goldberg-Polin. Nach Angaben eines israelischen Armeesprechers wurden die Geiseln kurz vor der Entdeckung durch ihre Entführer getötet.

Präsident Biden reagierte umgehend mit einem entschlossenen und zugleich emotionalen Statement, in dem er die Gewalt scharf verurteilte und seine tiefe Trauer über den Verlust von Hersh Goldberg-Polin ausdrückte. Bereits zwei Tage später nutzte Biden jedoch die Gelegenheit, um Netanjahu öffentlich scharf zu kritisieren. Auf die Frage, ob der israelische Premierminister genügend tue, um einen Geisel-Deal zu erreichen, antwortete Biden mit einem ungewöhnlich undiplomatischen „no“. Netanjahu wies Bidens Kritik in einer Videoansprache umgehend zurück.

Am selben Tag gipfelten die zuletzt stark angewachsenen Proteste gegen die israelische Regierung in einem Generalstreik, bei dem Tausende Israelis die Straßen blockierten und Netanjahu für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich machten. Die scharfen Äußerungen des amtierenden US-Präsidenten dürften die massiven Proteste in Israel weiter anheizen, die bereits seit Beginn der Geiselkrise immer wieder aufflammen. Es ist denkbar, dass die Biden-Administration die Proteste mit gewissem Wohlwollen aufnimmt, in der Hoffnung, dass der öffentliche Druck in Israel Netanjahus Bereitschaft zu Zugeständnissen bei den Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen erhöhen könnte.

Kampf um strategisches Gebiet

Dieses Abkommen, um das die Kriegsparteien und internationalen Vermittler seit Wochen und Monaten ringen, könnte je nach Ausgestaltung erhebliche sicherheitspolitische Implikationen für Israel mit sich bringen. Folgen, die weit über das Schicksal Benjamin Netanjahus hinausreichen.

Im Fokus der Verhandlungen steht der sogenannte Philadelphi-Korridor. Ein 14 Kilometer langer Streifen Land, zwischen Gaza und Ägypten, der stellenweise nur rund 100 Meter breit ist. Die Passage wurde nach Israels Rückzug von der Sinai-Halbinsel im Jahr 1967 errichtet, um den Warenfluss nach Gaza kontrollieren zu können.

Nach dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 übernahm Ägypten die Aufsicht über den Korridor. Es konnte jedoch nicht verhindern, dass die Hamas unter der Passage ein weitverzweigtes Tunnelsystem errichtete. Durch die unterirdischen Gänge schmuggelte die Hamas jahrelang Waffen, Baumaterial und andere Ressourcen. Die verdeckte Aufrüstung trug letztlich dazu bei, dass die Terror-Organisation ihr verheerendes Massaker am 7 Oktober durchführen konnte.

Strategische Bedeutung des Korridors

Ende Mai errang die israelische Armee die Kontrolle über die Philadelphi-Passage – und damit die Kontrolle über den gesamten Grenzverkehr zwischen Gaza und Ägypten. Die damit verbundene strategische Position möchte Israel nicht wieder aufgeben. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Premierminister Israels Benjamin Netanjahu, Benny Gantz oder Jair Lapid heißt – jeder strategisch denkende israelische Regierungschef würde bei einem Geisel-Deal darauf bestehen, dass der Philadelphi-Korridor unter israelischer Kontrolle verbleibt. Nur so kann der Schmuggel von Waffen unterbunden und ein erneuter 7. Oktober mit Sicherheit ausgeschlossen werden.

Laut der „Jewish Chronicles“ geht aus Geheimdienstinformationen, die auf der Befragung eines inhaftierten hochrangigen Hamas-Funktionärs sowie sichergestellten Dokumenten beruhen, der Plan des obersten Hamas Führers Jahja Sinwar hervor, sich selbst und andere Hamas-Anführer durch den Korridor auf die Sinai-Halbinsel und von dort in den Iran abzusetzen. Auch israelische Geiseln sollten auf diesem Weg aus Gaza gebracht werden. Für israelische Sicherheitsbehörden wäre ein solches Szenario ein absoluter Alptraum.

Bei einer am Mittwoch für ausländische Journalisten anberaumten Pressekonferenz bekräftigte Netanjahu, dass ein Verlust der Kontrolle über den Philadelphi-Korridor eine Bedrohung für Israels darstellen würde und diese daher nicht aufgegeben werde. 

Die jüngsten Enthüllungen könnten auch erklären, warum die Hamas in den laufenden Verhandlungen um ein umfassendes Waffenstillstandsabkommen so vehement auf die Kontrolle des Philadelphi-Korridors pocht. Die Forderung der Terror-Organisation, Israel solle seine Präsenz in diesem strategisch wichtigen Gebiet aufgeben, bildet einen zentralen Streitpunkt in den Gesprächen.

Bereitschaft zu Zugeständnissen

Die Biden-Regierung lehnt eine israelische Präsenz im Gazastreifen nach Kriegsende ab. In den vergangenen Monaten hat Israel sich wiederholt bereit erklärt, US-amerikanische Vorschläge für Waffenstillstandsabkommen zu akzeptieren. Es war stets die Hamas, die ihre Einwilligung im letzten Moment verweigerte. Insofern lassen sich Bidens kritische Äußerungen gegenüber Netanjahu als innenpolitisch motiviertes Vorgehen im Vorfeld der Wahlen deuten.

Im konkreten Fall könnte das Vorgehen des US-Präsidenten jedoch nicht nur das Verhältnis zu Israels Premierminister weiter belasten, sondern auch die langfristige Sicherheit Israels gefährden. Denn möglicherweise drängt es den jüdischen Staat zu sicherheitspolitisch riskanten Kompromissen, die das Land langfristig verwundbar machen.

Trotz Netanjahus Zurückweisung der öffentlichen Kritik durch Biden sowie seines Beharrens auf Kontrolle des strategisch wichtigen Korridors gibt es Anzeichen dafür, dass die israelische Regierung hinter den Kulissen dem starken Druck der USA nachgeben könnte. Die Kombination aus internationalem Druck, insbesondere von Seiten der USA, und den eskalierenden Protesten im eigenen Land scheint die Regierung zu weiteren Kompromissen zu bewegen.

Nach Angaben des Sprechers des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, beinhaltet der jüngste von Israel unterstützte Vorschlag für ein Geiselabkommen den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dicht besiedelten Gebieten entlang des Philadelphi-Korridors.

Israels schwieriger Balanceakt

Die möglichen Szenarien für den Philadelphi-Korridor offenbaren die vielschichtigen Herausforderungen, vor denen der jüdische Staat steht: Auf der einen Seite steht Israels vitales Interesse, die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor zu behalten, um eine Wiederaufrüstung der Hamas zu verhindern sowie die Flucht von Hamas-Kämpfern und die weitere Verschleppung israelischer Bürger über die Sinai-Halbinsel zu unterbinden. Auf der anderen Seite sieht sich Israel mit dem Druck konfrontiert, die Geiseln nach Hause zu bringen. Hinzu kommen die Erwartungen der internationalen Gemeinschaft, die Region durch einen dauerhaften Waffenstillstand zu befrieden.

Netanjahu steht dabei vor schwierigen Entscheidungen: Gibt er nach, riskiert er Israels langfristige Sicherheitsinteressen; bleibt er hart, gefährdet er möglicherweise die für Israel lebenswichtige Militärunterstützung der USA und verstärkt den wachsenden Unmut im eigenen Land.

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob und zu welchem Preis eine Einigung über den Philadelphi-Korridor erzielt werden kann. In den 14 Kilometern dieses schmalen Landstreifens verdichtet sich die gesamte Komplexität des Nahost-Konflikts – und seine Zukunft könnte richtungsweisend für die gesamte Region sein.

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4 Antworten

  1. Es ist eine sehr schwierige Situation. Indes, wenn VOR 2005 Israel die Kontrolle über den Philadelphia-Korridor hatte, kann es völkerrechtlich kein Problem darstellen, nun auch wieder die Kontrolle zu übernehmen. Denn seit 2005 bis heute hat jeder Vernünftige erfahren, dass Schmuggel u.a. eben deswegen möglich war, weil Israel keine Kontrolle mehr hatte.
    Da das Camp-David-Abkommen 1979 also NICHT die Israelische Kontrolle verneint hat – sonst wäre Israel ja nicht bis 2005 dort gewesen – kann es auch heute kein Problem sein, dass Israel die Kontrolle zurückgewinnt.
    Die HAMAS will sowieso keinen Frieden, und Israel muss entscheiden, wie es weitergeht.
    Die Welt muss endlich zurück zum Sechs-Tage-Krieg, zum UNO-Beschluss danach u. zur Erkenntnis, dass Land gegen Frieden überhaupt nicht gegeben ist mit terroristischen Pals. Diese haben keinen Recht auf Gebiet, weil sie eben die Formel Land gegen Frieden nicht erfüllen.
    Die Spaltung Israels ist ein weiteres Problem, das nicht zu unterschätzen ist.
    Und letzten Endes ist das Israel-feindliche Deutschland mit dem Chaos der Ampelregierung auch ein Faktor, wenn Markus Söder u. Friedrich Merz das Sagen hätten, dann könnte Deutschland für Israel viel besser agieren, aber das ist Wunschdenken.
    Kurzum: Ich unterstütze die Israelische Haltung, die Kontrolle über den Philadelphia-Korridor zurückzuholen. Alles Andere bringt Schmuggel von Waffen etc., das darf Israel nicht zulassen.

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  2. Ja Israel steuert immer deutlicher auf einen Scheideweg zu! Israel wird sich entscheiden müssen, sich auf seinen Gott oder weiter auf menschliche Hilfe zu verlassen – dieser Prozess, die eigene Hilflosigkeit zu erkennen – wird von Tag zu Tag sichtbarer – und entspricht dem, was zahlreiche biblische Propheten vorausgesagt haben, was jedoch Juden, Christen und Israelfreunde nicht wahrhaben wollen – und versuchen sich vehement dagegen zu stämmen, auch IN ist davor nicht gefeit!
    Nachdenkliche Grüße Martin

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  3. Egal wie Israel handelt, werden die Erwartungen der internationalen Gemeinschaft diesen nie entsprechen.
    Leider ist Israel aber auf einige Unterstützungen angewiesen und macht deshalb etliche Abstriche am eigentlich notwendigen Handeln. Solche Abstriche haben mit zum 7. Oktober beigetragen.
    Die langfristigen Sicherheitsinteressen Israels und das Freikommen der Geiseln müssen gelöst werden, ein Dilemma, zu dem die meisten internationalen und deutschen Worthülsen keine Lösungen liefern, eher noch der Hamas und dem Jihad zu Ansehen verhelfen.

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  4. Diese 14 km…. Waffenlieferungen Wege?
    Ägypten traue ich nicht trotz Friedensvertrag.
    Hamas, Sinwar, soll Milliardenschwer sein. Da wird mancher die Hand aufhalten und Augen zu drücken. Ach, mein Israel, du bist von Feinden umzingelt. Borrell heute in Ägypten, ein waschechter EU Antisemit. Usw. Beten wir für die Geiseln und IDF. OT: In Mainz Fest der Kulturen. Shum Stadt. Ohne anwesende Jüd. Gemeinde. Türken, Ukrainer, Araber- Stände und Fahnen. Keine Shum Fahne bzw. Israelische. In Speyer und Worms Shum Fahnen. Was ist aus der BRD geworden?

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