In der Jerusalemer Balfourstraße haben sich am Montagabend einige Hundert Menschen versammelt. Dort, wo die Residenz des Premierministers steht; dort, wo die Freunde und Familien der entführten Geiseln im Oktober ein Zelt errichtet haben, das an die 115 im Gazastreifen verbliebenen Geiseln erinnert; dort, wo allwöchentlich am Samstagabend Tausende zusammenkommen, um gegen die Regierung und für die Freilassung der 115 im Gazastreifen verbliebenen Geiseln zu demonstrieren.
Anlass für die Versammlung ist der Trauertag Tischa BeAv, der unter anderem an die Zerstörng der beiden Tempel in Jerusalem erinnert. Nach dem jüdischen Abendgebet, das die Anwesenden gemeinsam abhalten, geben verschiedene Sprecher Impulse zur aktuellen Lage: eine Politikerin der Stadtverwaltung spricht, eine Sängerin leitet ein Klagelied an, der Vater eines am 7. Oktober Ermordeten leitet das Gebet.
Und bevor die „Spontangemeinde“ gemeinsam die Klagelieder liest, spricht Galia Dekel. Sie ist die jüngere Schwester von Avinatan Or, einer der 115 verbliebenen Geiseln. Der Freund von No’a Argamani, die am 8. Juni von der Armee befreit wurde.
Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute seines Grimmes. Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht. Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet.
Klagelieder 3,1-8
„Der Mann, der Elend sah“
Dekel beginnt ihre Rede mit der Lesung der ersten acht Verse aus den „Klageliedern Jeremias“, Kapitel 3. Dann beginnt sie ihre Rede: „Avinatan, heute Abend lesen wir hier in Jerusalem das Buch der Klagelieder. Du bist der Mann, der Elend gesehen hat. Du gehst durch die Finsternis und nicht durchs Licht. Du lebst in Finsternis wie die Toten. Wir stehen hier und lesen die Klagelieder. Wir rufen deinen Schrei, weil du nicht schreien kannst. Es ist dein Schrei, und der unserer entführten Brüder und Schwestern.“
Das Publikum hört gespannt zu, als Dekel weiterspricht: „Niemand braucht in diesem Jahr eine Erinnerung für Trauer und Tränen. In diesem Jahr müssen wir nicht erklären, wie Zerstörung aussieht, weil wir es tagtäglich am eigenen Leib erfahren. Also vor allem bist du es, der es am eigenen Leib erlebt.“
Die Szene wirkt teilweise surreal: Die Straße vor dem „Zelt der Entführten“ nur teilweise abgesperrt; Menschen, die auf Stühlen oder auf dem Boden sitzen, dazwischen fahren Linienbusse, Passanten laufen vorbei. Doch inmitten der „Gemeinde“, die sich an diesem Abend spontan gebildet hat und die aus säkularen und religiösen Juden gleichermaßen besteht, herrscht atemlose Stille.
„Zerstörung nicht als Strafe“
Dekel, die an ihrer Kleidung als verheiratete religiöse Frau erkennbar ist, spricht weiter: „Heute möchte ich uns an einen anderen Aspekt erinnern: Im Inneren des Judentums und der Tora sehen wir, dass sich ausgerechnet aus tiefster Zerstörung etwas Neues offenbaren kann. Zerstörung ist keine Strafe und soll uns nicht zum Leiden führen. Stattdessen gibt es die Zerstörung, weil wir für die nächste Etappe bereit sind. Für die nächste große und vollkommene Sache.“
Der jungen Frau ist die Bewegung in ihrer Stimme abzuspüren: „Um diese neue Sache zu erleben, muss das Bestehende zerbrechen. Ausgerechnet aus diesem Bruch entsteht die Erlösung. Ausgerechnet aus diesem Bruch beginnt das Licht, hervorzuschauen und etwas neues aufzubauen.“
Gekonnt greift Dekel die verschiedenen Aspekte des Fastentages auf: „In unserer Tradition ist der Messias am Tischa BeAv geboren. In vielerlei Weise befinden wir uns aktuell in der Zerstörung. Ob es sich um persönliche, allgemeine, gesellschaftliche, staatliche oder politische Angelegenheiten handelt – die Hilf- und Ratlosigkeit ist groß. Darüber müssen wir trauern und fasten.“
Nach Dekels bewegender und negativer Bestandsaufnahme, schlägt ihre Rede eine andere Richtung ein: „Aber ich glaube aufrichtig, dass uns diese Zerstörung zustößt, damit wir vorankommen und eine Ebene weitergehen. Jerusalem war – und wird mit Gottes Hilfe bald wieder – eine Lichtquelle für die ganze Welt. Das Volk Israel und sein Land ist dazu geschaffen, eine neue gute Botschaft zu bringen, eine Nation der Moral, Gerechtigkeit und Liebe zu sein; eine Nation des Friedens, der Harmonie und Schönheit – danach sehnen wir uns an diesem Tag; am Tischa BeAv, hier in Jerusalem.“
Gelegenheit für einen Neubeginn
Gemäß der jüdischen Tradition sagt Dekel: „Am Tischa BeAv ist nicht nur der Tempel zerstört worden. Viele Jahrhunderte vorher hat das Volk Israel die ‚Sünde der Spione’ begangen. Damals waren wir in der Wüste und hatten Angst, das Land Israel zu betreten, weil wir nicht daran geglaubt haben, erfolgreich zu sein. Wir sagten uns: Das Volk, das in dem Land wohnt, ist zu stark. Gegen die haben wir keine Chance, wir haben verloren.“
Als „Sünde der Spione“ gilt im Judentum der Bericht aus 4. Mose 13. Dort gebietet Gott die Erkundung des verheißenen Landes durch zwölf Späher. Als diese zurückkehren, berichten zwei der Späher positiv von dem Land, die anderen zehn konzentrieren sich auf die negativen Aspekte. Diese Berichte führen zu Angst, Unsicherheit und Unzufriedenheit im Volk Israel. Sie fordern von Mose und Aaron, nach Ägypten zurückzukehren und zweifeln an Gottes Versprechen.
Mehr als 3.000 Jahre später ruft Dekel ihre Landsleute auf: „Lasst uns dieses Mal nicht erneut diesen Fehler begehen, sondern es besser machen. Lasst uns glauben, dass wir aus diesem Bruch von neuem heranwachsen. Lasst uns zu träumen wagen und diese Träume umsetzen.“ In Anlehnung an Jesaja 1,21 sagt sie: „Dann wird man dich die ‚Stadt der Gerechtigkeit‘ nennen, eine ‚treue Stadt‘.“
Sie schließt ihren Rede mit einem weiteren Bibelwort: „Oder, so wie wir es auch in diesem schlimmen Kapitel lesen: Klagelieder 3,22: ‚Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.‘“ (mh)
13 Antworten
Danke für den Bericht.
Die Klagelieger sind – leider- sehr aktuell und bezeichnen die Zeit von Trauer und Finsternis, wie wir sie heute erleben. Es bleibt uns nur, dass wir das Gute am Ende dieser Zeit herbeisehnen und dafür kämpfen.
Der biblische Glaube, die Jüdischen Festtage sowie die eingepfropften Zweige sind enorm wichtig, gerade in dieser Zeit der Finsternis.
Ach Mensch, 😪😔 so wunderbare und berührende Worte. Ich würde kein einziges rausbekommen,so müsste ich heulen! Aber sie hat Recht. Es wird etwas Neues schönes entstehen. Und hoffentlich kommen die Geiseln lebend wieder! Ich bete für jede Einzelne und Ihren Angehörigen nebst Freunden!! Mit Gottes Hilfe wird es gehen!!!🇮🇱🙏🙏🙏🕎
Mmutig und weise! Danke!
KORREKTUR: Mutig und weise! Danke!
Vielen Dank für diesen bewegenden Artikel, der positiv in die Zukunft weist – trotz den ganzen Anfeindungen/Antisemitismus weltweit wird Israel bestehen 🇮🇱
Berührend.
Danke für diesen Bericht.
Sehr bewegend.
Ein sehr guter Bericht, ermutigend und bewegend. Danke!
Für mich heißt das, nicht nachlassen im Gebet für Israel.
In Galia Dekel steckt eine starke Seele, ein wunderbarer Mensch, der trotz all diesem Leid, nicht verbittert oder voller Hass scheint. Und sie hat Recht mit diesem tiefen Glauben: es wird wieder neues wachsen und reifen. Der Herr ist in allem Leid bei seinem Volk. Ich wünsche ihr von Herzen, dass ihr Bruder wieder aus der Geiselhaft freikommt und mir ihm alle, die noch am Leben sind.
Gestern ist eine männliche Geisel von der Hamas erschossen worden, zwei weibliche wurden schwer verletzt. So zumindest sagt es die Hamas. Kann man ihnen glauben? Oft war es nur Propaganda, aber in ihrem Hass sind sie zu allem fähig.
zu Ellas Post …
Zitat-Beginn: In Galia Dekel steckt eine starke Seele, ein wunderbarer Mensch, der trotz all diesem Leid, nicht verbittert oder voller Hass scheint. Zitat-Ende
Mir ist aufgefallen, dass sehr viele Holocaust-Überlebende eine solche Einstellung haben.
Ich vermute, dass die Quelle dieser Kraft aus ihren Glauben zu dem allein wahren Gott herrührt; die Thora ist, so wie ich sie kenne, bestimmt von Liebe und Hoffnung.
PSALM 12
1 Für den Chormeister. Auf der Achten. Ein Psalm Davids. 2 Hilf doch, HERR, der Fromme ist am Ende, ja, verschwunden sind die Treuen unter den Menschen. 3 Sie reden Lüge, einer zum andern, mit glatter Lippe und doppeltem Herzen reden sie. 4 Der HERR tilge alle glatten Lippen, die Zunge, die Vermessenes redet, 5 die da sagten: Mit unserer Zunge sind wir mächtig, unsere Lippen sind mit uns. – Wer ist Herr über uns? 6 Wegen der Unterdrückung der Schwachen, wegen des Stöhnens der Armen / stehe ich jetzt auf, spricht der HERR, ich bringe Rettung dem, gegen den man wütet. 7 Die Worte des HERRN sind lautere Worte, Silber, geschmolzen im Ofen, von Schlacken gereinigt siebenfach. 8 Du, HERR, wirst sie behüten, wirst ihn bewahren vor diesem Geschlecht auf immer, 9 auch wenn ringsum Frevler umhergehn und die Gemeinheit groß wird unter den Menschen.
Ich ziehe meinen Hut vor Dekel.Und danke dem Ewigen Yisraels für diese Schwester.So klare Worte.AM YISRAEL CHAI!!!
Liebe Dekel,sei reich gesegnet.
Herzliche Grüße und Shalom ,
Elvira
Danke