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Konsens gibt es nur in einem Punkt

Das Vertrauen in die eigene Armee ist in Israel über die Lagergrenzen hinweg stabil. Dafür klaffen die politischen Forderungen umso weiter auseinander. Selbst in den Kreisen der Geisel-Angehörigen.
Von Valentin Schmid

Israelischer Politiker zu sein, ist sicher kein Genuss in diesen Tagen. Seit über drei Monaten bestimmt der Krieg gegen die Hamas die Tagesordnung, ein Kriegskabinett gibt die Richtung vor. Das Parlamentsgebäude in Jerusalem, die Knesset, wird von einem 250 Meter langen Band aus gelben Windsäcken geziert. Das Symbol der Sehnsucht nach einer baldigen Rückkehr der israelischen Geiseln.

Und dann wären da noch die wenig schmeichelhaften Rufe wütender Bürger. „Schämt euch!“, oder „Kriminelle Regierung!“ zum Beispiel. An Tagen mit Plenarsitzung sind sie bis ins Innere der Knesset zu hören. Denn die Demonstranten stellen ihre Lautsprecher dann gerne so auf, dass sie von der eigenen Veranstaltung weg und voll auf das Parlamentsgebäude hin ausgerichtet sind. Doch was genau fordern die Protestierenden eigentlich von der Politik? Die Antwort ist vielschichtig.

Im Namen des Otef

Die heutige Demonstration steht unter der Überschrift „Im Namen des Otef: Ihr habt uns im Stich gelassen!“ Otef? In Israel ist das der Sammelbegriff der Kibbutzim und Städte rund um den Gazastreifen. Mit anderen Worten: Die Hauptleidtragenden des Hamas-Terrors am 7. Oktober.

„Die Menschen des Otef sind Flüchtlinge, sind gebrochen, wütend und schmerzerfüllt“, erklärt Omri Schifroni mit bebender Stimme. „Familienmitglieder von ihnen wurden ermordet.“ Allein in seinem Heimatort, dem Kibbutz Be’eri, fielen 130 Bewohner der Hamas zum Opfer. 30 wurden entführt.

Foto: Valentin Schmid
Als Bewohner des Kibbutz Be’eri hat Omri Schifroni über 130 Freunde an einem Tag verloren

Eine richtige Bühne hat die Demonstration nicht – aber hinter Schifroni steht ein Lastwagen mit zwei ausgebrannten Autos auf der Ladefläche. Das Symbol für die Zerstörungswut der Terroristen. Unter den Autowracks erstreckt sich ein gelbes Banner. „Wir werden nicht vergessen und nicht vergeben“, steht darauf.

Zwischen Wut und Angst

Die Wut richtet sich gegen die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud), welche noch immer viel zu wenig Verantwortung für das Sicherheitsversagen am 7. Oktober übernommen habe. Ein nationaler Trauertag müsse endlich her, meinen viele Demonstranten – und am besten auch der Rücktritt sämtlicher Minister.

Neben der Wut ist noch ein zweites Gefühl allgegenwärtig auf der Demonstration: Angst um die 132 israelischen Geiseln im Gazastreifen. Fast jeder zweite Teilnehmer trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Bringt sie nach Hause. Jetzt!“, die vom „Forum für Familien von Geiseln und Vermissten“ mit Sitz in Tel Aviv angeboten werden.

Diese Organisation, die nach eigenen Angaben etwa 110 Familien und somit 90 Prozent der Angehörigen vertritt, ist die maßgebliche Stimme der Geiseln in Israel. Sie druckt die Vermissten-Plakate aus, die das Landesbild prägen, sie organisiert Demonstrationen und Protestmärsche, zuletzt sogar die Blockade der Schnellstraße 136 in Tel Aviv.

Was auch immer es kostet

Das Forum verwendet stets alarmierende Slogans wie „Befreit sie bis zur allerletzten Geisel!“ oder „Uns geht die Zeit aus, befreit sie jetzt!“ – und zielt dabei auf diplomatische Anstrengung ab. Liat Bell Sommer, eine Sprecherin des Forums, drückte das am 19. Januar so aus: „Wir fordern die Regierung auf, gemeinsam mit den USA ein internationales Komitee einzuberufen, um eine sofortige Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln auszuarbeiten.“

Andere Stimmen des „Forums für Familien von Geiseln und Vermissten“ gehen noch weiter. Um einen Deal mit der Hamas zu erreichen, fordern sie einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen sowie eine Freilassung aller 6.000 palästinensischer Gefangener in Israel. „Was auch immer es kostet“, ließe sich deren Haltung zusammenfassen.

Was die allermeisten Angehörigen des Forums sowie des „Otef“ verbindet: Sie leben säkular und zählen sich politisch zum linken Spektrum, gehören etwa der Kibbutz-Bewegung oder der Arbeitspartei (Avoda) an. Sie waren es auch, die 2023 unermüdlich gegen die Justizreform kämpften.

Die Mütter der Kämpfer

Doch natürlich gibt es auch in Israel zu jeder Demonstration eine Gegendemonstration. Und so hat sich unter einem weißen Pavillion an der Auffahrt zur Knesset eine weitere Gruppe breitgemacht. „Meine beiden Brüder kämpfen in Gaza”, sagt Sarah, „und ich will, dass auch sie wieder nach Hause kommen.“ Sie verteilt große, weiße Aufkleber. „Das Leben unserer Kämpfer zuerst“, steht darauf, „nicht das Leben des Feindes und seiner Unterstützer.“

Foto: Valentin Schmid
Sarah sorgt sich um ihre beiden Brüder, die gerade als Soldaten im Gazastreifen kämpfen

Verteilt werden die Aufkleber von den „Müttern der Kämpfer“. Das ist eine kleine Gruppe religiöser Israelis, die ein Ende der humanitären Hilfe für den Gazastreifen fordert, um der Hamas nicht in die Hände zu spielen. „Lasst unsere Kinder so kämpfen, dass sie gewinnen können“, steht auf einem ihrer Plakate. Geiseldeals mit der Hamas oder gar eine Waffenruhe sind für sie keine Option.

„Auch wir haben Vertrauen in unsere Armee“, sagt Benjamin, der auf dem Weg zur „Otef-Demo“ am Pavillion der „Mütter der Kämpfer“ vorbeigeht. „Aber unsere Prioritäten sind extrem unterschiedlich. Wir glauben nicht, dass sich die Geiseln militärisch befreien lassen.“

„Die Armee kommt zu euch“

Als wären das nicht alles schon genug Meinungsverschiedenheiten, ist in der Knesset an diesem Tag noch eine weitere Gruppe vertreten. Während im Plenarsaal die Initiative zu einem „Nationalen Tag der Einheit“ debattiert wird, haben sich auf der Besuchertribüne Angehörige des „Hoffnungsforums“ versammelt.

Stillschweigend hält Mona ein Plakat in die Höhe, auf dem die Gesichter der israelischen Geiseln in einer Art großem Mosaik abgebildet sind. Soweit gleicht es dem Marketing des „Forums für Familien von Geiseln und Vermissten“. Doch anstatt „Bringt sie nach Hause!“ steht auf dem Plakat „Seid stark, die Armee ist auf dem Weg zu euch!“

Auch das „Hoffnungsforum“ wurde von Familienmitgliedern der Geiseln gegründet – allerdings solchen mit nationalreligiöser Ausrichtung. Einer von ihnen ist Tzvika Mor, wohnhaft in der Siedlung Kiriat Arba bei Hebron und Vater des 23-jährigen Eitan, der am 7. Oktober von der Hamas entführt wurde. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um Eitan weine“, sagte Mor gegenüber der „Times of Israel“.

Nicht um jeden Preis

Doch keine vier Monate vor dem 7. Oktober habe er noch mit seinem Sohn über den Schalit-Deal gesprochen: 2011 war der israelische Soldat Gilad Schalit im Austausch für 1.027 palästinensische Gefangene aus dem Gazastreifen freigekommen. Darunter Jahja Sinwar, der mutmaßliche Drahtzieher des Großangriffs der Hamas im Oktober. „Eitan sagte zu uns: Wenn ich als Geisel genommen werde, führt keinen Gefangenenaustausch durch, um mich freizulassen.“

Dieses Gespräch präge Mor bis heute. „Ich sage den Familien, die um jeden Preis einen Deal wollen: Die Leute haben es satt, zu sehen, wie ihr euch selbst an die erste Stelle setzt. Ihr seid nicht die Einzigen, denen das passiert. Es gibt Familien, die nachts nicht schlafen, weil ihre Söhne in Gaza kämpfen. Es gibt Evakuierte.“

Tzvika Mor und seine Mitstreiter setzen ihre Hoffnung auf den Leitsatz der Regierung – dass nur maximaler militärischer Druck die Hamas zur Freilassung von Geiseln bewegen könne. Im „Forum für Familien von Geiseln und Vermissten“ hätten sie mit ihrer Ansicht keinen Raum gefunden – und daher ihr eigenes gegründet.

Ringen um die Deutungshoheit

In der Öffentlichkeit geben sich beide Foren diplomatisch und kooperativ. Doch unter der Oberfläche gibt es ein starkes Ringen um die Deutungshoheit. So seien in Wahrheit nur gut 15 der Geiselfamilien ernsthaft im „Forum für Familien von Geiseln und Vermissten“ engagiert, meint Mor. „Ich glaube, dass 95 Prozent auf meiner Seite stehen.“

In einem Fernsehauftritt am 17. Dezember wurde ihm dafür Arroganz vorgeworfen. „Meiner Meinung nach sind Sie mit Ihrer Position in der völligen Minderheit“, sagte Alon Nimrodi, ebenfalls Vater einer Geisel und Teil des „Forums für Familien von Geiseln und Vermissten“.

Wie sollen die Politiker nun also entscheiden? Umso länger der Krieg andauert, umso mehr scheinen die Forderungen der Bevölkerung auseinanderzudriften. Es bleibt abzuwarten, welche Fraktion den längsten Atem hat – und was der Krieg mit der israelischen Demokratie macht.

Valentin Schmid studiert derzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem.

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9 Antworten

  1. Valentin Schmid: “ Es bleibt abzuwarten, was der Krieg mit der israelischen Demokratie macht“. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Schmid, der Krieg, Nichts kann die Demokratie in Israel außer Kraft setzen.

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  2. Israel hat in Tunnels eine Hamas Waffenfabrik zerstört. In einem anderen Tunnel sollen sich 20 Geiseln aufgehalten haben. Wo sind sie? In Wohnungen? Weiter im Süden- Tunnelsystem? 400 km hat IDF entdeckt. 300 km werden noch vermutet. Ich kann die Angehörigen verstehen, auch die Eltern der Soldaten. Was unverständlich bleibt, wie EU mit arab. Aussenministern, angeführt von Borrell, IL mit Terroristen einen arab. Staat aufzwingen will. Dazu die Angriffe der Hisbollah. Ja, IL von Feinden umgeben. Feinde in der EU, u.a. Spanien, Irland, Nordländer. Baerbock Sprachrohr für Zweistaaten. Zieht sie dann ins WJL oder nach Gaza? Nein, BRD gibt aus unserem nicht mehr vorhandenen Spartopf nach Gaza und zur PA., Fatah.
    OT: Ein arabischer Christ im WJL sagte, Pals dort, auch in Dschenin, wären brave Bürger. Kennt der nicht die Gebote?
    Hamas behauptet, IDF brachte am 7.10. ihre eigenen Leute um. Gleichzeitig lässt Guterres diese Lüge stehen und verurteilt IL.

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  3. Bei allem Verständnis und Mitgefühl für die Schmerzen und das Leid der Angehörigen der Geiseln und aller Sorge um die verschleppten Geiseln, muss doch klar sein, dass man dieses grausam perfide Spiel der Hamas-Terroristen nicht mitspielen darf. Dass ein Staat nicht erpressbar werden darf, hat unsere Regierung in den Siebzigern Gott sei Dank erkannt, auch wenn das Leben gekostet hat. Ansonsten wäre diese Methode zu einer erfolgversprechende Option für Terroristen geworden, dieses Vorgehen weiter zu betreiben zur Durchsetzung ihrer radikalen menschenverachtenden Ziele.
    Deshalb habe ich Verständnis und hohen Respekt für die Haltung von Tzvika Mor und seinem Sohn, auch wenn es mich unendlich traurig macht.
    Deshalb halte ich es, so weh das tut, für absolut sinnlos und fatal, jetzt vor den Forderungen der Geiselnehmer einzuknicken. Die Terroristen dürfen mit dieser Methode keinen Erfolg haben, sonst werden sie zukünftig alles daran setzen, dieses verbrecherische Vorgehen weiter zu perfektionieren und keine noch so alarmbereite und wehrfähige Regierung und Armee, auch nicht die israelische, könnte das dauerhaft verhindern.

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  4. Ein Einknicken stärkt nur die Hamas. So schrecklich es mit den Geiseln ist, aber sie sind ein Teil der israelischen Gesellschaft. Und da haben viele die gleichen Sorgen. Kommen unsere Kinder aus dem Krieg wieder nachhause? Wird die Hamas in drei Jahren wieder zuschlagen, dann mit Absprache mit Hisbollah und dem Iran und es gibt dann nicht „nur1400 Tote“, sondern eine halbe Million?

    Hier die richtige Entscheidung zu treffen ist schwierig und die Regierung tut mir da echt Leid, sie muss einen Spagat hinkriegen.

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  5. Der erste „Geisel-Deal“, was für eine Bezeichnung!, war der große Fehler seitens Israel.
    Seither sitzt die Hamas auf dem längeren Ast.
    Israel hat diesen Krieg leider schon längst verloren.

    Mir tun die gefangenen, gequälten Geiseln sowie ihre verzweifelten Angehörigen unendlich leid.
    Trotzdem muss der Fokus auf einer langfristigen Lösung des Problems im Gazastreifen und im sogenannten Westjordanland liegen.

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    1. @One
      „Israel hat diesen Krieg leider schon längst verloren.“ Das glauben wir nicht.
      „Der Fokus muss auf einer langfristigen Lösung des Problems liegen.“ Ja, wir Katholiken warten auf einen Wunder.

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  6. Shalom,Wer Interesse hat etwas sehr wichtiges zu lesen über A.Baerbock wende sich an die jüd.Allgemeine.Seite 2-unten-Die leeren Worte der A.Baerbock! Sehr lesenswert.Wie die Zeitung allgemein.Sehr zu empfehlen zu abonieren.

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  7. Ich kann gerade nicht denken. Ich liebe Israel und ich liebe das Heilige Land und ich möchte an die gesunden starken Kräften dort glauben, die Heilung bringen: ein leuchtendes Israel inmitten einer schönen Landschaft, in der es mehr als zwei Religionen gibt. Eine Landschaft, in der es Raum gibt für die Zweifler und Menschen auf der Suche. Ich bete für ein einiges Israel, das die anderen inspiriert und indem es bei sich ankommt seine Nachbarn mitnimmt. AM ISRAEL CHAI * La vie soit belle!

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