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Ein einziger Name war Hiobsbotschaft

Am Morgen des 7. Oktober 2023 wurde auf allen israelischen TV-Kanälen der Name des Bürgermeisters der Regionalverwaltung Scha‘ar HaNegev eingeblendet. „Ofir Libstein getötet“ lasen Israelis und wussten: Es ist weitaus mehr im Gang als Raketenangriffe.
Von Antje C. Naujoks

Die massiven Raketenangriffe auf Südisrael hielten bereits seit Stunden an. Anfangs mussten zehntausende israelische Bürger Schutz suchen, doch mit Ausdehnung des Beschussradius waren schon bald hunderttausende Zivilisten betroffen. In den sozialen Medien kursierten ab 8 Uhr, rund anderthalb Stunden nach Einsetzen der Raketenangriffe, Videoclips, die bewaffnete Hamas-Terroristen auf israelischem Territorium zeigen.

Die Medien griffen solche Meldungen erst zeitversetzt und zunächst mit großer Vorsicht auf, da von offizieller Seite keine Bestätigung dazu vorlag. Die Moderatoren aller auf Sondersendung gegangenen TV-Kanäle waren genauso verwirrt wie ihre Zuschauer. Klar war nur, dass gleich mehrere Orte Schauplatz von Angriffen aus dem Gazastreifen sind.

Dumpfe Vorahnung

Je mehr Informationen eingingen, desto undurchsichtiger wurde die Lage. Warum die massiven Raketenangriffe an diesem Schabbat-Morgen? Was hat es mit dem Hamas-Kommando in Sderot, einer Stadt rund 5 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, auf sich? Dann gingen erste Warnungen vor Hamas-Terror-Kommandos auch für weiter von der Grenze entfernte Städte ein.

Wer Verbindungen zu den Menschen vor Ort hatte, wusste, was sich punktuell in den jeweiligen Ortschaften zuträgt. Wer solche Informationen hatte und helfen konnte, war längst auf dem Weg Richtung Grenzregion und nicht damit beschäftigt, die Allgemeinheit zu informieren. Vielmehr versuchte er, jeden aufzuscheuchen, der würde helfen können – mit einer Waffe, als Fahrer, als Sanitäter, als Arzt. Weiterhin fehlte der Gesamtüberblick, sowohl den Betroffenen, die zu dem Zeitpunkt längst mit Höllenszenarien konfrontiert waren, als auch Armee, Behörden, Ministerien und Volk.

Bereits um 9 Uhr, zweieinhalb Stunden nachdem die Sirenen erstmals Raketenangriffe angekündigt hatten, machte sich im ganzen Land die dumpfe Vorahnung breit, dass sich noch etwas ganz anderes zuträgt. Als rund eine Stunde später der erste Name eines Toten im Fernsehen bekanntgegeben wurde, hielt Israel den Atem an.

Der Schrecken nimmt zu

Gegen 10 Uhr an diesem Morgen hieß es, Ofir Libstein sei getötet worden. Libstein ist landesweit bekannt. Bevor er 2018 zum Bürgermeister der rund 10.000 Einwohner zählenden Regionalverwaltung Scha‘ar HaNegev mit langer Grenze zum Gazastreifen gewählt wurde, machte er sich zusammen mit seiner Ehefrau Vered einen Namen als Initiator des auch über Israels Landesgrenzen hinaus bekannten Festivals „Darom Adom“.

Seit 2007 pilgern Israelis wie auch ausländische Touristen anlässlich des Festivals in diesen Teil des Negev, der zwischen Februar und März wegen der wunderschönen Anemonenblüte zum „Roten Süden“ wird. In Israel war weithin bekannt, dass Ofir Libstein im Frühjahr 2024 Karawanen in die Landschaft platzieren wollte, damit Menschen inmitten dieses schönen Naturschauspiels einige Tage Erholung finden; jeder Gefahr eines möglichen Raketenbeschusses, den die Region seit über 20 Jahren kennt, zum Trotz.

Zudem gehörte Libstein zu jenen Israelis, die den Traum auf Frieden nie aufgaben. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er in seiner Regionalverwaltung ein gemeinsames israelisch-palästinensisches Gewerbegebiet aufgebaut.

Rätselraten um Todesursache

Kurz nach Bekanntgabe seines Namens rätselten viele in Israel: „wurde getötet“ ist eine deutliche, aber zugleich Fragen aufwerfende Formulierung. Durch einen Raketenangriff? Doch intuitiv wussten alle, dass eine andere Wahrheit dahintersteckt und die Kunde von seinem Tod lediglich der Auftakt ist. Dann wurde die TV-Durchsage geändert: Libstein wurde ermordet, hieß es.

Bald darauf wurde erneut korrigiert. Dieser Mann des Kibbutz Kfar Asa, nur wenige Kilometer vom Grenzzaun entfernt, gehört zu den Gefallenen. Libstein versuchte seine Gemeinschaft zu schützen. Er kämpfte gegen die Terroristen zunächst mit einem Revolver, den er zu Hause verwahrte, und dann mit seinem M-16-Gewehr, das er aus dem Kibbutz-Magazin hatte holen können.

Blutige Stunden

Der 50-jährige Libstein fiel in unmittelbarer Nähe seines Wohnhauses in diesem Kibbutz mit 765 Mitgliedern. Das fand sein ältester Sohn Aviv knapp zwei Stunden nach Beginn des Überfalls, bei dem unter anderem motorisierte Gleitsegler zum Einsatz kamen, durch Mobiltelefonortung heraus.

Aviv, der gerade seinen Dienst bei einer kämpfenden Einheit der israelischen Armee beendet hat, wagte sich sogar heraus, um sich zu vergewissern. Er streichelte das Gesicht seines zweifellos toten Vaters und nahm dessen Waffe an sich. Er wusste, sein Vater war nach dem Sprint ins Kibbutz-Waffenmagazin auf dem Weg zurück zu seiner Familie, zu seiner Ehefrau Vered, zu ihm und weiteren zwei Söhnen, Idan und Uri, 14 und neun Jahre alt.

Vered Libstein, die sich mit ihren Kindern im Schutzraum verbarrikadierte, wusste bereits um 7.15 Uhr, dass ihre Mutter ermordet worden war. Sie ließ sich gegenüber ihren jüngeren Söhnen nichts anmerken und versuchte zudem, den Tod des Vaters vor ihnen zu verbergen – immer in der Gewissheit, Terroristen könnten jeden Augenblick auch an ihre Tür hämmern. Gegenüber einem weiteren Sohn, dem 19-jährigen Nitzan, versuchte sie noch mehr Fassung zu wahren.

Sorge um traumatisierten Sohn

Nitzan hielt sich in seiner eigenen Ein-Zimmer-Wohnung auf, einige hundert Meter vom Elternhaus entfernt. Sie machte sich umso mehr Sorgen um ihn, weil er vollkommen allein in jungem Alter einen Mörserangriff auf dem Fußballplatz des Kibbutz erlebt hatte und seither mit einem Posttrauma zu ringen hat.

Zu ihm hielten sie sowie ihr ältester Sohn per WhatsApp Kontakt. Sie versuchten einander durch Textbotschaften – am Telefon zu reden war zu gefährlich, sie durften keine Geräusche machen – Mut zuzusprechen.

Gegen Mittag erfuhren sie, dass Nitzan sehr gut durchgehalten hatte, nun jedoch die Terroristen an seiner Tür waren. Sie gaben ihm Rat, wie er die Schusswunde am Oberschenkel abbinden sollte. Um 14.50 Uhr an diesem Schabbat waren die Akkus der Mobiltelefone leer. Die Mobiltelefone schwiegen, während draußen der Lärm davon kündete, dass ohne Unterlass die Magazine automatischer Waffen leergeschossen wurden.

Gerettet und doch verloren

Es dauerte 30 Stunden, bis Soldaten der Eliteeinheit Duvdevan sich zur Familie Libstein vorgekämpft hatten. Die Vier waren dennoch nicht in Sicherheit, denn im Kibbutz gingen die Kämpfe weiter. Vered schleuste ihre jüngeren Söhne an Ofirs Leiche vorbei, als die Soldaten sie in Sicherheit brachten.

Zu Nitzan konnten die Soldaten nicht vordringen. In einem längeren TV-Interview, das am 16. Oktober ausgestrahlt wurde, berichtet Vered Libstein über Einzelheiten. Sie strahlt dabei eine unglaubliche Kraft aus, spricht mit fester Stimme. Als sie jedoch mitteilt, dass ihr Sohn Nitzan von allen verlassen hilf- und schutzlos zurückgelassen wurde, brach sie zum ersten Mal während des 17-minütigen Hintergrundberichts in Tränen aus. Neun Tage nach dem Massaker, das die Hamas-Terroristen auch im Kibbutz Kfar Asa anrichteten, galt ihr Sohn Nitzan weiterhin als verschollen.

Von Beerdigung zu Beerdigung

Es dauerte, bis die Leiche von Ofir Libstein geborgen werden konnte. Beigesetzt wurde er am 18. Oktober in Even Jehuda, weit weg von seiner Regionalverwaltung und der Landschaft, die er so sehr liebte. Tausende gaben ihm das letzte Geleit, obwohl Israelis zu dem Zeitpunkt praktisch von Beerdigung zu Beerdigung gingen, denn die Beisetzungen der über 1.400 Opfer waren wegen der chaotischen Lage nur mit großer Verzögerung angelaufen.

Staatspräsident Jitzchak Herzog gehörte zu den vielen, die Nachreden auf Ofir Libstein hielten. Darin wurde immer wieder erwähnt, dass er nicht nur die Region liebte, für die er sich als Bürgermeister engagierte, sondern vor allem die Menschen seines Kibbutz wie auch der anderen Kibbutzim, die die Mehrheit der Ansiedlung von Scha‘ar HaNegev bilden.

Etliche Kibbutzim der Regionalverwaltung, die in unmittelbarer Grenznähe liegen, kamen unter Angriff der grausam wütenden Nuchbar-Einheit (Elitetruppe) der Hamas. Allein der Kibbutz Kfar Asa hat über 70 Tote zu beklagen, mehr als ein Dutzend Kibbuz-Mitglieder werden als Geiseln im Gazastreifen festgehalten.

Am Tag nach der Beisetzung von Ehemann und Vater Ofir, als für Vered Libstein und ihre drei Söhne die siebentägige Trauersitzung gerade erst begonnen hatte, kam eine Meldung, die die letzte Hoffnung, Nitzan könnte verschleppt worden sein, zunichte machte: Seine Leiche wurde identifiziert.

Rückblick auf bange Stunden auch im Landkreis Karlsruhe

Am Tag bevor Ofir Libstein fiel, begrüßte er die Teilnehmer und Begleiter eines Jugendaustausches aus dem Landkreis Karlsruhe. Nach der Corona-Zwangspause freute er sich umso mehr, im 30. Jubiläumsjahr der Partnerschaft zwischen dem Landkreis Karlsruhe und seiner Regionalverwaltung Scha‘ar HaNegev wieder Teilnehmer eines Jugendaustauschs willkommen heißen zu dürfen.

Die erst am Donnerstag gegen Abend gelandeten Gäste hatten sich kaum orientiert, als sie am Schabbat die für sie vollkommen ungewohnten Raketenangriffe in Schutzräumen miterleben mussten. Schnell war in Karlsruhe ein Krisenstab zusammengerufen, der sich umsichtig um alles kümmerte, was in solchen Situationen ansteht, wie Begleitung der Eltern, Kontakte zum Auswärtigen Amt und Vorbereitung einer Evakuierung mit den israelischen Partnern.

Diese handelten trotz fehlendem Bürgermeister in dieser chaotischen Krisensituation umsichtig, und mehr noch: Sie kümmerten sich auf herausragende Weise menschlich um die Gäste und atmeten genauso wie alle anderen auf, dass kein Besucher aus Deutschland in einem von Massakern betroffenen Kibbutz untergebracht war.

Vorzeitige Rückkehr nach Deutschland

Noch am Schabbat-Abend wurden deutsche und israelische Teilnehmer mit Begleitern beider Seiten in den südlicheren Negev evakuiert, außerhalb der Reichweite von Raketen. Sie verbrachten Tage mit schrecklichen Nachrichten, denn kein Israeli, der die deutschen Gäste begleitete, blieb von Todesnachrichten verschont. Wenige Tage später reisten die Schüler aus dem Landkreis Karlsruhe und ihre Begleiter vorzeitig nach Deutschland zurück.

Der Landkreis Karlsruhe setzte viele Zeichen der Trauer und Solidarität. Die Jugendlichen beider Seiten werden die grausamsten Tage in der Geschichte des Staates Israel für immer emotional miteinander verbinden.

Im Gedenken an Ofir Libstein und alle anderen Ermordeten und Gefallenen

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die unter anderem freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 40 Jahren in Israel, davon mehr als ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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4 Antworten

  1. Habe Ofir Liebstein 2019 im Kibbuz Nir Am kennengelernt . Sein Tod verpflichtet mich das Land Israel und seine Bewohner weiterhin tatkräftig zu unterstützen.

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  2. Danke für diesen aufrüttelnden Bericht über die Ereignisse in dem Kibbuz des Bürgermeisters Liebstein vom 7. Oktober.

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  3. Nur dauerhaftes Gebet,
    nur der Glaube an den Messias,
    können uns von dieser Unbill befreien.

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    1. Und da sich die Juden weigern, Christen zu werden, sind sie selber schuld, dass ihnen das passierte?

      Bei manchen Christen kannst du nicht so viel essen, wie viel du rückwärts essen könntest.

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