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Ein Veteran erinnert sich

Auch 50 Jahre später spielt der Jom-Kippur-Krieg im kollektiven Gedächtnis der Israelis eine große Rolle. Für manche änderte sich damals das ganze Leben. Arje Svenjinevitzsch wurde am Sinai schwer verletzt und teilt heute seine Erinnerungen.
Von Merle Hofer
Arje Svenjinevitzsch wurde am Sinai schwer verletzt und teilt heute seine Erinnerungen.

Mehr als 2.600 Soldaten fielen im Jom-Kippur-Krieg auf israelischer Seite, 7.500 weitere wurden verwundet. Einer von ihnen ist Arje Svenjinevitzsch. Im Krieg verlor er ein Bein, das zweite ist seitdem nur bedingt funktionsfähig.

An den Oktober 1973 erinnert sich der ­heute 73-Jährige gut: „Am Morgen des Jom Kippur, es war Schabbat, der 6. Oktober, sagte meine Schwester mir, dass es ein großes Durcheinander geben würde. Sie diente damals bei der Luftwaffe. Ich war Reservesoldat. Ich war nicht religiös und fastete nicht, aber ich blieb zu Hause bei meinen Eltern. Um kurz vor 2 Uhr am Nachmittag heulten die Sirenen. Etwa eine halbe Stunde vorher rief die Armee zu Hause an, um mir zu sagen, dass ich eingezogen würde.“

Arje rannte durch die Nachbarschaft und klopfte an die Türen der Soldaten, die er benachrichtigen sollte. Er packte seine Tasche und ging zum Sammelpunkt in Jad Eljahu, dem Stadtviertel von Tel Aviv, in dem er aufgewachsen war. Arjes Vater hatte am Morgen gesehen, wie an der Militärstation viel Trubel herrschte: Autos, Lastkraftwagen, Soldaten. Alle kamen und gingen, trotz des großen Feiertages.

Dem Sechs-Tage-Krieg entgangen

Bereits seinen Grundwehrdienst hatte Arje auf der Sinaihalbinsel verbracht: „Im Frühjahr 1967 sollte ich eingezogen werden. Doch als der Offizier hörte, dass ich erst siebzehneinhalb Jahre alt war, nahm er mich in den Arm und sagte: ‚Geh wieder nach Hause. Du wirst noch früh genug eingezogen!‘ Wie recht er hatte! Ich wurde dann schließlich im November eingezogen, wenige Monate nach dem Krieg.“

Drei Jahre diente Arje während des sogenannten Abnutzungskrieges auf dem Sinai als Panzertechniker. Damals versuchte Ägypten, den Sinai, den Israel im Sechs-Tage-Krieg erobert hatte, zurückzuerobern. 1970 kam es zum Waffenstillstand, der bis zum Oktober 1973 hielt. Gerne wäre er zu den Fallschirmjägern gegangen. Doch sein General sagte ihm damals, dass er genug Soldaten habe, „die Berge zu erklimmen, aber niemanden, der ihm die Panzer repariert“.

Der Jom-Kippur-Krieg

Im Oktober jährt sich der Jom-Kippur-Krieg zum 50. Mal. Am höchsten Feiertag des jüdischen Kalenders musste sich das israelische Militär gegen Angriffe an zwei Fronten verteidigen. In der Bevölkerung löste der Krieg eine Kontroverse über den Vorwurf aus, Premierministerin Golda Meir und Verteidigungsminister Mosche Dajan hätten Warnungen ignoriert. Die Vorwürfe aufgrund der massiven Verluste zwangen Meir im April 1974 zum Rücktritt. Israel verzeichnete einen militärischen Sieg nach drei Wochen, aber weil es den Nimbus der Unbesiegbarkeit verlor, ging der politische Sieg an Ägypten.

Die Offiziere bestimmten ihn für den Einsatz als Waffen- und Kuppeltechniker. „Als mir klar war, dass ich Panzer reparieren dürfte, willigte ich ein.“ Seine Vorgesetzten sagten über ihn, er arbeite für drei. „Mit Mühe habe ich meinen Schulabschluss hinbekommen, aber kreativ war ich schon immer und geschickt mit meinen Händen. Genau deshalb wollte mich das Militär auch unbedingt in der Artillerie.“ Im Kurs lernte er viele weitere begabte Techniker kennen. Stationiert war er in der 14. Brigade, im Bataillon 52.

Die Ägypter siegen am Sinai

An der Sinai-Front gelang es den Streitkräften der ägyptischen Armee, den Suezkanal zu durchqueren und in den ersten drei Tagen einen etwa 10 Kilometer tiefen Streifen entlang der gesamten Länge des Kanals zu besetzen. „Unsere Armee hatte Angst vor den Angriffen der Ägypter. Wenn unsere Panzer sich bewegten, wirbelten sie eine Menge Staub auf. Die Ägypter sahen, wie sich der Staub bewegte und schossen entsprechend. Deshalb fuhren wir ganz langsam und stoppten plötzlich, sodass der Staub zwar aufgewirbelt wurde, aber die Geschosse vor dem Panzer einschlugen.“

Stellungen der Israelis an der Bar-Lev-Linie Foto: Israelische Armee | CC BY-SA 3.0 Unported
Nach der Besetzung der Sinai-Halbinsel im Juni 1967 errichtete Israel entlang des Ostufers am Suezkanal eine Kette von Befestigungsanlagen – die Bar-Lev-Linie, benannt nach dem damaligen Generalstabschef. Für die Israelis galt sie als undurchdringlich, bis sie am 6. Oktober 1973 in weniger als zwei Stunden vom ägyptischen Militär überrannt wurde. Die Wasserbarriere beschrieb der damalige Verteidigungsminister Mosche Dajan als „einen der besten Panzerabwehrgräben der Welt“.

Der Kriegsveteran erklärt: „Um in den Panzer zu gelangen, musste man von der Seite über die Panzerkuppel einsteigen. Wären wir von oben eingestiegen, hätten die Ägypter uns gesehen. Also nahm ich meinen Werkzeugkasten und ging an der Motorhaube vorbei. Den Werkzeugkasten habe ich direkt vor mir hingeschoben und bin dann sehr schnell, innerhalb von einer Sekunde, durch die Öffnung geschlüpft.“

Nach dem Abnutzungskrieg schloss die Armee die Stützpunkte an der Bar-Lev-Linie nach und nach, um Kräfte zu sparen. „Von den ursprünglichen 32 Stützpunkten im Jom-Kippur-­Krieg waren nur noch 16 übrig. An jedem Stützpunkt waren ein bis drei Panzer. Wir arbeiteten hart und man ließ uns nur alle zwei Monate mal nach Hause. Permanent mussten wir Panzer reparieren. Für die Wartung von 14 Panzern waren jeweils sechs Leute zuständig: Einer war für die Kuppel verantwortlich, einer für die Elektronik, die vier anderen waren Mechaniker. Unsere Panzer waren ständig unter Beschuss. Die Reparaturen führten wir oft mitten in der Nacht durch.“

Auch das Öl musste regelmäßig ausgetauscht werden. „Wenn der Motor frisch gewartet war, blieb er oft drei Monate im Kanal und hielt 200 bis 300 Motorstunden. Die Motoren machten Lärm wie eine Fabrik, doch an den Krach war ich so gewöhnt, dass ich, wenn ich nachts um 3 schlafen ging und um 4 Uhr nur 5 Meter entfernt der Panzermotor mit 800 PS startete, nicht aufwachte. Ich war ein Arbeitstier und habe alles kontrolliert und repariert, was selbst Soldaten mit höheren Rängen nicht konnten.“

Die Granate schlägt ein

Am 18. Oktober, es war ein Donnerstagnachmittag, schlug eine ägyptische Granate in der Nähe des Panzers ein. „Wir arbeiteten zu sechst am Panzer. Unser Kommandeur war auf der anderen Seite des Panzers, ihm ist nichts passiert. Er war ein Tausendsassa. Im Sechs-Tage-Krieg bekam er einen Granatsplitter ins Ohr. Damit ging er ins Krankenhaus, sie nähten es ihm an und er lebte weiter, als sei nichts gewesen.“

Die anderen fünf Kameraden arbeiteten draußen am Panzer. „Ich selbst hing mit dem Oberkörper im Motorraum. Heute weiß ich, was ich damals nicht wusste: Als wir zum Panzer kamen, waren schon vor uns Techniker da gewesen.“ Aber vor lauter Angst taten sie ihre Arbeit nicht. Vielmehr krochen sie in den Panzer. Sie öffneten nicht einmal die Luken, um ihren Kameraden zu sagen, dass das Gelände unter Beschuss stand.

Aus Arjes Worten spricht keine Bitterkeit. Doch er weiß, wer es war, der ihn damals nicht gewarnt hat: „Ab und an rufe ich bei ihm an. Doch es heißt immer, er sei nicht zuhause. Meine fünf Kameraden sind gefallen. Ich hing kopfüber im Panzer, um die Motorflügel zu richten. Meine Beine wurden schwer verletzt, doch mein Kopf, meine Arme und der Rest meines Körpers bekamen nur wenig ab.“

Israelnetz Magazin

Dieser Artikel ist in einer Ausgabe des Israelnetz Magazins erschienen. Sie können die Zeitschrift hier kostenlos und unverbindlich bestellen. Gern können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

Arje erinnert sich, wie er nach hinten in den Sand fiel: „Ich habe einen lauten Knall gehört, als die Granate auf uns fiel. Es war, als würde die Sonne auf uns krachen. Dieser Druck, der sich da aufbaute – er ließ keine Möglichkeit zum Atmen. Der Sauerstoff ging aus. Für etwa 15 Sekunden blieb ich bei Bewusstsein, danach wurde alles schwarz vor meinen Augen.“

Erst am Samstagmorgen wachte er wieder auf. Was in den anderthalb Tagen dazwischen passiert war, ließ er sich später erzählen: „Ausgebreitet lag ich auf der Erde. Unsere Sanitäter kamen und sahen, dass ich keinen Puls mehr hatte. Jemand erklärte mir mal, dass unsere Adern sich in so einer Extremsituation zusammenziehen. Also deckten sie mich mit einer Decke ab, wie meine Kameraden. Sie dachten, ich sei tot. Als sie die Decke über mich legten, stöhnte ich wohl und bewegte mich etwas. Da merkten sie, dass ich am Leben war.“

Lebensrettender Hubschrauber

Kurz zuvor war ganz in der Nähe ein Militärhubschrauber gelandet. „Sie klemmten mir den Arm und die Beine ab.“ Als Arje seinen linken Arm hebt, wird an der Innenseite eine große Narbe sichtbar: „Auch hier war ein Granatsplitter.“ Die rechte Gesichtshälfte und die Zähne waren verbrannt, und auch die rechte Ohrmuschel. Bis heute sieht sie verkümmert aus, sein Gehör ist davon nicht betroffen.

Der Hubschrauber flog Arje ins 80 Kilometer entfernte unterirdische Feldkrankenhaus Refidim, wo er stabilisiert wurde. Noch am Abend wurde er ins Beilinson-Krankenhaus in Petach Tikva geflogen. „In meiner Krankenakte sah ich später mein getrocknetes Blut. Sie hatten meine Wunden mit einem Hautklammergerät zusammengeflickt.“

Arje verlor viel Blut. Ohne den Hubschraubertransport hätte er keine Überlebenschance gehabt. „Mein ganzes Leben wollte ich mal mit einem Hubschrauber fliegen! Und nun“, entrüstet sich Arje, „als es so weit war, flog ich und merkte nichts davon. Erst als ich am Samstagmorgen aufwachte, informierten die Ärzte meine Eltern telefonisch. So waren damals die Vorschriften. Sie wollten meinen Eltern vorher nicht unnötig Hoffnung machen. Wäre ich im Krankenhaus gestorben, hätten sie gesagt, dass ich auf dem Feld gestorben bin.  Sie wissen dann, dass du gestorben bist, aber nicht, wo es passiert ist.

Mein Vater kam zu Besuch, aber als sie mich ihm zeigten, erkannte er mich nicht. Ich war damals schlank, doch hier lag ich, aufgedunsen von den Granatensplittern. Mein Vater war schockiert. Er hatte ja nur mich und meine Schwester! Nach etwa einer Woche, viel Schmerzen und Morphium, entzündete sich mein rechtes Bein und die Ärzte amputierten es.“

Fünf Monate im Krankenhaus

Nahezu emotionslos spricht der alte Soldat über dieses Erlebnis: „Die Ärzte haben weniger weggenommen, als sie hätten wegnehmen müssen. Sie wollten möglichst viel übrig lassen, damit die Prothese gut angepasst werden konnte und ich damit laufen lernen konnte. Dann pumpten sie mich mit Antibiotikum voll. Sie haben alles richtig gemacht.“ Und flapsig fügt er hinzu: „Auf mein Äußeres habe ich nie großen Wert gelegt, aber wichtig war mir, dass mein Kopf in Ordnung ist und ich keinen Blödsinn rede.“

Im Beilinson-Krankenhaus durchlief er sämtliche Abteilungen. „Freunde kamen, durften mich aber nicht besuchen. Etwa fünf Monate verbrachte ich dort. Im Tel-HaSchomer-­Krankenhaus fertigten sie mir dann eine Prothese an, mit der ich laufen lernte. Ich erinnere mich an alles. Das ist nicht angenehm. Am Beinstumpf auf der rechten Seite fühle ich alles. Das rechte Bein spüre ich hingegen fast gar nicht, das ist damals komplett verbrannt. Es ist lahm. Ich bekam ein Gerät, das mir half, den Fuß angemessen zu bewegen.“

Am Anfang hatte Arje starke Schmerzen. „Doch ich war jung und motiviert, sodass ich von hier bis Haifa hätte laufen wollen. Ich war super ehrgeizig. Nur deshalb bin ich am Leben. In der Armeezeit habe ich mich nie um Arbeit gedrückt. Während das Technikteam vor mir im Panzer verschwand und sah, dass es gefährlich ist, am Panzer zu arbeiten, sagte ich: ‚Gib mir den Schraubenschlüssel.‘ Wenn den Motorraum jemand zugeschraubt hat, bekomme ich ihn auch wieder auf.“ Auch nach seiner Verletzung habe er immer gearbeitet. „Ich gründete eine Baufirma und kletterte auch auf Gerüste, zum Leidwesen meiner Mutter. Dass ich immer versuchte, unmögliche Aufgaben zu übernehmen, hat mir 1973 das Leben gerettet.“

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Eine Antwort

  1. Schön zu lesen. Das sind für ein Land wertvolle Leute! Alles Gute weiterhin! Was für ein Unterschied zu all jenen, die da auf die Gassen schwärmen und protestieren und boykottieren und meutern.

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