Als Adolf Hitler an die Macht kam, war Paula Orbach sechseinhalb Jahre alt. Zwei Jahre später, im März 1935, kam der „Führer“ zu Besuch in ihre Heimatstadt Saarbrücken: „Ich habe ihn nicht gesehen, doch die Menschen haben begeistert gejubelt und auch seine Stimme habe ich laut und deutlich gehört.“ Heute heißt die Zeitzeugin Margalit Fried.
Knapp 90 Jahre später sitzt Paula Orbach als Margalit Fried mit ihrem guten Freund Josef Aron in einem kleinen Café in der Jerusalemer Bezalelstraße. Margalit und Jossi stammen aus Deutschland. Beide wohnen seit vielen Jahrzehnten in Israel. Im Café frühstücken sie fast täglich zusammen und tauschen sich aus. Über das Leben, die Familie und die aktuelle politische Lage.
Manchmal schweifen die Erinnerungen zurück in die Vergangenheit. Kurz nach dem Besuch Hitlers wurde Paulas Vater festgenommen. Sie erinnert sich: „In Saarbrücken hatte eine Schokoladenfabrik gebrannt. Viele Kinder aus dem Stadtviertel kamen und sammelten die Schokolade von der Straße auf, die Erwachsenen sammelten das Blei. So auch mein Vater. Wenige Tage später kam die Polizei und beschuldigte ihn des Diebstahls: ‚Herr Orbach, wir müssen Sie festnehmen. Sie haben Blei von der Straße gestohlen, Sie sind ein Dieb.‘“ Es war das letzte Mal, dass Paula ihren Vater sah.
Die bewegende Geschichte von Margalit Fried
Die alte Dame könnte verbittert sein. Doch stattdessen zieht ihre fröhliche Ausstrahlung Menschen in den Bann. In ihrem Haus, im urigen Jerusalemer Viertel Musrara, erzählt sie, wie sie von Deutschland nach Israel kam.
Geboren bin ich als Paula Orbach 1926 in Saarbrücken. Ich war das dritte von fünf Kindern. Die erste Klasse besuchte ich noch an einer normalen Schule. Eines Tages durften wir nicht mehr mit unseren Freunden spielen. Auch der Verkauf von unserem Haus und Geschäft war verboten. Meine Mutter verstand, dass sie diesen Ort sofort verlassen müsse.
Ihr Mann war im Gefängnis, sie war mit fünf Kindern allein. Mein ältester Bruder war gerade 13 geworden, ich erinnere mich noch dunkel an die Bar Mitzva in der Synagoge. Unsere gesamte Verwandtschaft war in Polen. Also fuhren wir zu der verheirateten Schwester meiner Mutter. Unseren Besitz gab sie an einen christlichen Freund. Sie gab ihm eine Vollmacht und bat ihn, es bis zu unserer Rückkehr zu verwalten. Doch wir kehrten nie zurück.
Familie der Mutter wollte nicht fliehen
An Polen habe ich nur schlechte Erinnerungen. Meine Mutter verstand, dass es in Polen genau wie in Deutschland werden würde. Der Bruder meiner Mutter war schon vorher nach Palästina ausgewandert. Dorthin wollte sie gehen. Sie bekniete ihre Familie, mitzukommen und erklärte ihnen, wie es in Deutschland gewesen sei. Doch die wehrten ab: „Wir sind doch hier zu Hause“. Sie erklärten sie für verrückt. Wir kamen nach Italien, in die Hafenstadt Triest. Dort gab es ein Schiff mit dem Namen „Galiläa“, das einmal in der Woche nach Palästina ablegte. Die meisten der Passagiere waren Juden.
Die „Galiläa“
Das Passagierschiff „Galiläa“ brachte in den 1930er und 40er Jahren jüdische Einwohner aus Europa in das Mandatsgebiet Palästina.
An einem Freitagabend kamen wir mit der Bahn in Triest an. Es war dunkel und kalt und meine Mutter wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Der Bahnsteig leerte sich, nur wir blieben zurück. Dann passierte etwas Wunderbares. Wir hörten Pferdegetrappel und neben uns hielt eine Kutsche. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm uns der Italiener auf seine Kutsche.
Er wusste, dass wir Juden waren. Alle, die nach Palästina wollten, mussten ins Palästina-Amt. Dieses wurde von der Jewish Agency betrieben und meine Mutter wusste, dass es in Triest eins gab. Der Kutscher lieferte uns dort ab. In dem Haus gab es drei Stockwerke. Der Kutscher klingelte, doch niemand öffnete. Er gab nicht auf und klingelte so lange, bis im oberen Stockwerk das Licht anging. Jemand kam in seinem Morgenmantel herunter.
Das Palästina-Amt
… war eine Abteilung der Jewish Agency in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Hauptsitz in Jaffa. Es war an der Verteilung von Alija-Zertifikaten beteiligt, besorgte Ausreiseerlaubnisse und Visa. Außerdem stellte es Gelder für die Emigration bereit und half bei der Überführung von Gepäck und Eigentum der Einwanderer. Das Amt vermittelte zudem Sprachkurse in Hebräisch sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für den Erwerb von handwerklichen und landwirtschaftlichen Fähigkeiten.
Eigentlich war das Amt am Wochenende nicht besetzt. Nur an diesem einen Abend war ein Mann da geblieben. Das Haus war nicht dafür gedacht, eine Mutter mit fünf Kindern unterzubringen. Doch der Italiener bestand darauf, dass uns der Mann in Empfang nahm. Er wartete so lange, bis er uns versorgt wusste. Er nahm kein Geld von uns und fuhr wieder los. Wir bekamen ein großes Zimmer mit vielen Betten.
Eine verzweifelte Mutter und die Lösung
Das Amt hatte guten Kontakt zur jüdischen Gemeinde. Jede Familie bekam eine Aufgabe, um uns zu unterstützen. Ich weiß noch, wie ich jeden Freitag zu einer anderen Familie ging. Sie gaben mir entweder eine Mahlzeit oder Geld. Ich habe mich sehr geschämt.
Meine Mutter war eine starke und mutige Frau, und für ihre Kinder hat sie alles getan. Aber es gab keine Zertifikate. Es vergingen Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Eines Tages versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Sie wusste, dass ihre Kinder durch die jüdische Gemeinde versorgt würden. Als sie sich im Meer ertränken wollte, fand sie glücklicherweise ein Polizist. Wir waren es gewöhnt, dass sie spät nach Hause kam, aber niemals so spät. Der Polizist brachte unsere schwache klatschnasse Mutter und der Vorfall sprach sich in der Gemeinde rum.
Zertifikate
Jüdische Einwanderer, die zwischen 1922 und 1948 legal ins Mandatsgebiet Palästina einwandern wollten, benötigten ein Einwanderungszertifikat der Briten. Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers wurde Palästina zu einem wichtigen Exilland für jüdische Flüchtlinge. Offiziell wanderten von 1933 bis Ende 1938 mehr als 200.000 Juden nach Palästina ein.
Daraufhin erzählte der Leiter des Palästina-Amts meiner Mutter, dass sich Henrietta Szold in der Stadt befand. Mit meinem ältesten Bruder ging meine Mutter zu Henrietta Szold. Die sagte zu ihr: „Frau Orbach, ich kann Ihnen nichts versprechen. Aber ich werde mein Möglichstes versuchen.“ Meine Mutter war verzweifelt und begann auf dem Flur zu weinen. Ein Angestellter kam und fragte, was los sei. Meine Mutter erzählte ihm von der Begegnung und er beruhigte sie: „Wenn Frau Szold Ihnen sagt, dass sie versuchen wird, etwas zu tun, kommt das einem Versprechen gleich.“
Henrietta Szold
… war eine amerikanisch-jüdische Aktivistin. Seit Beginn der 1930er Jahre unterstützte sie Kinder bei der Einwanderung nach Palästina. Sie sammelte Geld, stellte Wohnunterkünfte bereit und unterrichtete die Einwanderer. Damit rettete sie Tausenden Kindern das Leben. Die Sozialarbeiterin war eine der Gründerinnen der zionistischen Frauenorganisation Hadassah, die sich bis heute für die Unterstützung des Gesundheitswesens in Israel einsetzt. Szold engagierte sich für die Förderung von Bildung und humanitären Bemühungen in der jüdischen Gemeinschaft.
Eines Tages bekam mein ältester Bruder ein Zertifikat. Er ging nach Palästina in die Jugendbewegung. Allein. Nach einigen Monaten kam ein weiteres Zertifikat für den nächsten Bruder. Und ein paar Monate später war ich an der Reihe. Das war 1938, ich war elf Jahre alt und konnte noch nicht in die Jugendbewegung. Doch über die Jewish Agency kam eine Gruppe von Kindern aus Deutschland.
Ein anderer Name in der neuen Heimat
Ich weiß nicht, wie Henrietta Szold das anstellte. Auch hier wandte sie einen Trick an und brachte mich mit diesen Kindern zusammen unter. Auf dem Schiff begleitete uns ein junger Mann, der war so ein besonderer Mensch, auch er war Deutscher. Er ließ uns alle uns in einer Reihe aufstellen und unsere Namen aufsagen. Mein zweiter Name war Perel (Perle) und so nannte er mich Margalit (Juwel). Was für ein Glück, dass er nicht Pnina (Perle) sagte. Pnina mag ich nicht. Aber an Margalit hab ich mich gewöhnt.
Was immer ich bekam, nahm ich an. Ich weinte nicht, ich lachte nicht, ich freute mich auch nicht. Als wir in Haifa ankamen, bewarf man uns mit Steinen. Auch das störte mich nicht. Mit etwa 30 Kindern erreichten wir unseren Bestimmungsort, Ahava, das heißt Liebe. Dort war es wie im Paradies. Man empfing uns freundlich, sogar die älteren Kinder. Die Direktorin kam aus Berlin. Niemand kann sich vorstellen, wie schön dieser Ort für uns war. Alle Erzieher und Lehrer waren freundlich, es waren gute Menschen. Alles war so sauber und wir bekamen eine gute Bildung. Ich blieb sechs Jahre dort.
Ein Jahr nach mir kam meine Mutter mit meiner jüngsten Schwester Schoschana ins Land. Sie waren auf der „Galiläa“. Doch direkt, als sie in Haifa einfuhren, brach der Zweite Weltkrieg aus – am 1. September 1939. Trotz Zertifikat erlaubten die Briten ihnen nicht, von Bord zu gehen. Sie fuhren von Hafen zu Hafen. Erst zwei Wochen später, am jüdischen Neujahrsfest Rosch HaSchanah, konnten sie in Haifa von Bord gehen.
Neuanfang in Jerusalem
Meine Mutter kam nach Jerusalem. Warum ich heute in Jerusalem lebe? Wegen meiner Mutter. Ich war ja gut versorgt und auch meine Geschwister hatten alle ein Zuhause gefunden. Aber ich dachte an meine Mutter und daran, wie sie am Freitagabend nach Hause käme und keines ihrer fünf Kinder dort sei. Sie hat es verdient, dass wenigstens eines ihrer Kinder bei ihr ist. Ich verließ also alle meine Freunde und die Liebe meines Lebens und zog zu ihr. Wir wohnten in einem Zimmer in Kerem Avraham, nahe des Stadtteils Ge‘ula.
Fast zehn Jahre lebte sie dort. Bis zum Unabhängigkeitskrieg. Damals starb mein Bruder Meir im Kampf in Galiläa, er war 24 Jahre alt. Von jemandem aus dem Sicherheitsministerium, der sich um Familien kümmerte, die einen Angehörigen im Krieg verloren hatten, bekam sie eine Wohnung in Baka. Es war ein großes, schönes, arabisches Haus. Auch ich lebte dort 40 Jahre. 1951 heiratete ich, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Nähe zur Familie tut gut
Wann und wie mein Vater aus dem Gefängnis entlassen wurde, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er in Auschwitz ermordet wurde. Ebenso die Schwester meiner Mutter und ihre beiden Kinder. Ich selbst habe zwei Kinder, Oren und Anat. Die beiden haben auch jeweils zwei Kinder. Ich wohne bei meinem Sohn mit im Haus, meine Tochter wohnt in Jaffa.
50 Jahre lang habe ich kein Deutsch gesprochen. Doch meine Tochter wollte unbedingt sehen, wo ich geboren bin. Ich habe vorgeschlagen, nach Italien zu fahren: „Dort gibt es doch auch schöne Dinge zu sehen und auch dort habe ich viele Erinnerungen.“ Doch meine Tochter ließ nicht locker: „Mutter, ich will nach Deutschland.“ Und dann fuhren wir. Wir standen vor unserem Haus. Die Fassade war vollständig verändert, doch das Hinterhaus war so, wie wir es verlassen hatten, komplett aus Holz.
Auch die Wohnung, in der Margalit heute lebt, ist mit Holz verkleidet. „Das hat alles mein Sohn gebaut“, erzählt sie stolz. Dieser werkelt im Garten zwischen Palmen und hohen Gräsern. Aus der Nachbarwohnung erklingt Musik, der 14-jährige Enkel Juval übt auf der Geige. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck ruft sie: „Weißt du, wie schön es ist, bei den Kindern zu wohnen?!“
Es ist Mittagszeit, als Margalit ihre Erinnerungen unterbricht. Sie wird sich nun etwas zu essen warm machen, dann ruhen und ihre Lieblingssendung, die amerikanische Serie „Reich und Schön“, schauen. Danach wird sie ihre Enkel besuchen und freut sich auf den morgigen Tag: „An manchen Tagen habe ich gar keine Lust, mich anzuziehen. Doch das Wissen, dass Jossi im Café zum Frühstück auf mich wartet, gibt mir jeden Tag neue Kraft, den Tag zu begrüßen.“
2 Antworten
Info: In Saarbrücken im Museum oberhalb der Brücke über die Saar, kann man die Dokumentationen,
auch der Besuch des “ Unaussprechlichen“, wie die Bevölkerung ihm zujubelte ansehen. Abscheulich, auch die Folterkammer. Hunderte Jüdische Namen im unteren Gewölbe und zig Hundert Pflastersteine auf dem Platz des Gedenkens.
@ Redaktion: Danke für den Artikel.
Auch von mir Danke für den Artikel.
Alles erdenklich Gute für Frau Orbach sowie für ihre Familie und Freunde.