JERUSALEM (inn) – Zwar wurde der berühmte Zionist und Visionär Theodor Herzl nur 44 Jahre alt, doch anlässlich seines 163. Geburtstages am 2. Mai bekam er eine Feier geschenkt. Eingeladen hatten das „Menachem Begin Zentrum“ und der Journalist und Herzl-Experte Gol Kalev.
Die Journalistin Noa Amujal stellte Kalev vor: „Niemand Besseren kann ich mir vorstellen als Gol, um an Herzls Geburtstag über genau ihn zu sprechen. Gol lebt und atmet Herzl.“ Ob es um israelischen Wein oder aktuelle Außenpolitik gehe – mit Gol sei kein Gespräch möglich, ohne dass er einen thematischen Bogen zu Herzl schlage, sagte die ehemalige Redakteurin der „Jerusalem Post“.
„Gol spricht mit Diplomaten, Historikern und Intellektuellen sowie mit Touristen auf dem Jüdischen Markt Mahane Jehuda, die zum ersten Mal im Land sind.“ Bei alle dem versuche der ehemalige Banker, der mehr als 20 Jahre in New York gelebt hat, Herzl den Platz zu geben, der ihm zustehe.
„Herzl ist am 10. Ijjar 5620 geboren“, erklärt Kalev den Termin der Veranstaltung. Nach dem jüdischen Kalender war der Jahrestag in diesem Jahr der Montag. „Auf dieses Datum fällt noch ein weiteres Ereignis. Als sich sein 36. Geburtstag nähert, ist er frustriert. In seinem Tagebuch beschreibt er, wie er versucht, Baron Rothschild und Baron Hirsch zu überzeugen, sein Buch zu lesen. Doch als sein Buch auf dem Weg zu Hirsch ist, verstirbt dieser. Herzl plant, in seine Geburtsstadt Budapest zu fahren. Doch durch Hechler bekommt er für den selben Tag eine Audienz beim Großherzog von Baden, Friedrich I.“
Ein neues Buch des Judentums
Kalev ist gerührt, als er die historischen Ereignisse erzählt: „An seinem 36. Geburtstag trifft Herzl den Großherzog von Baden. Vielleicht ist es das erste Mal in Tausenden von Jahren, dass ein Repräsentant des jüdischen Volkes das Anliegen der Juden einem Politiker vortragen kann. In sein Tagebuch schreibt er: ‚Heute hat das jüdische Volk Hirsch verloren. Aber am gleichen Tag habe ich den Herzog getroffen. Ein neues Buch des Judentums hat begonnen‘.“
Etwa 150 Personen waren der Einladung am Sonntagabend ins Begin-Zentrum physisch gefolgt, weitere verfolgten den Livestream. Kalev wandte sich an die Gäste: „Vor 2.000 Jahren haben Juden und das Judentum Jerusalem verlassen. Die Juden sind zurückgekehrt und nun auch das Judentum.“ Herzl habe die Struktur des Judentums verändert und im Wesentlichen habe er das ganz alleine getan.
„Im Prinzip hat er nicht mal was wirklich Neues gesagt. Die Idee, dass Juden in das Land ihrer Vorväter zurückkehren könnten, war ja an sich nicht neu.“ Doch Herzl habe seinen ganz eigenen Zugang gehabt. „Er war kein Rabbiner, kein jüdischer Leiter, kein Politiker und vertrat keine jüdische Organisation. Eigentlich war er eine Art Außenseiter, der nicht wusste, was andere Juden um ihn herum sagten oder dachten. Dadurch hatte er eine gewisse Außenperspektive.“
Judentum 3.0 – die Wandlung des Judentums
Kalevs Buch „Judentum 3.0. Die Wandlung des Judentums zum Zionismus“ ist im vergangenen Jahr erschienen. Es spricht vom Zionismus als Anker des zeitgenössischen Judentums.
Das Judentum 1.0 habe Mose mit der Tora und dem Leben in Juda gebracht, die Version 2.0 sei das rabbinische Judentum und das Leben in der Diaspora. Kalev erklärt: Diese Art des Judentums, die Herzl in Europa begegnete, sei nach dessen Vorstellung an sich nicht jüdisch gewesen, sondern erst durch die starke Judenverfolgung in Europa entstanden und hätte sich daher darüber definiert. Um zu überleben, müsse sich das Judentum stark verändern.
„Herzl warb außerdem darum, dass sich das Judentum politisch organisieren und strukturieren müsse“, ergänzte der Referent. „Er säte die Samen, um das Judentum zu verändern und gründete das, was ich als Judentum 3.0 bezeichne.“
Für Kalev ist der Zionismus nationaler Ausdruck der jüdischen Nationalreligion. Es ist nicht nur die Bewegung für die Gründung, die Entwicklung und den Schutz einer jüdischen Nation. Kalev beschreibt den Zionismus als Anker des zeitgenössischen Judentums.
„Heute denken viele, dass Herzls Zionismus darin bestand, Juden nach Israel zu bringen. Doch er wollte vor allem eine strukturelle politische Organisation.“ Herzl habe sich stark mit Mose beschäftigt und ihn studiert. „Moses Verdienst lag nicht darin, das Volk Israel aus Ägypten nach Kanaan zu bringen. Vielmehr wandelte er die jüdische Nation – während sie durch die Wüste zogen, konnte sich das Judentum formieren. Es brauchte Zeit, bis sich das Judentum in Kanaan ausleben konnte.“
So sei es auch bei Herzl gewesen: „Als das jüdische Volk in das Land seiner Vorväter zurückkehrte, ging es nicht um die Einwanderung, sondern um die Formierung des Judentums. Auch hier brauchte es Zeit, sich zu entwickeln. Wenn heute Menschen vom ‚Postzionismus‘ sprechen, missverstehen sie den Gründer.“
Infolge der vielen Reaktionen auf sein Buch, hat Kalev nach eigener Aussage die von ihm gegründete „Amerika-Israel-Freundschaftsliga“ (AIFL) Denkfabrik in „Denkfabrik Judentum 3.0“ umbenannt.
Botschafterin aus dem Kosovo gratuliert
Die Erinnerung an die Geschichte ist allgegenwärtig. Kalev fasst sie so zusammen: „Als wir vor 2.000 Jahren unser Land verließen, war es nicht unsere eigene Entscheidung, sondern wir wurden von europäischen Eindringlingen vertrieben, zunächst von den Griechen, dann von den Römern. Die europäische Ablehnung gegen Jerusalem findet sich in der Geschichte von jeher und Herzl war sich darüber sehr bewusst.“
Kalev begrüßte die Botschafterin des Kosovo, Ines Demiri: „Der Kosovo ist das erste europäische Land, das seine Botschaft in Jerusalem eröffnet hat.“ An Demiri gewandt sagte Kalev weiter: „Danke, Ines, dass Sie und Ihr Land hier ein Zeichen gesetzt haben. Und danke an Herzl, der den Prozess überhaupt angestoßen hat, dass dieser Schritt einer europäischen Botschaft in Jerusalem möglich ist.“
Die Botschafterin freut sich über die starken Beziehungen zwischen dem Kosovo und Israel. Im Kosovo habe es seit dem 16. Jahrhundert jüdisches Leben gegeben. „Sie hatten ihre Synagogen und Toraschulen und prägten unser gesellschaftliches Leben entscheidend mit.“
Die Beziehungen mit Israel hätten vor allem zwei Dimensionen: „Während der Zeit des Nationalsozialismus hat der Kosovo vielen Juden als Fluchtroute nach Albanien gedient.“ Stolz erklärt Demiri, dass viele Kosovo-Bürger in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt sind.
Leider habe es auch 200 Juden gegeben, die aus dem Kosovo in Konzentrationslager geschickt worden seien. Auch Familienmitglieder ihres Vaters wurden in Bergen-Belsen umgebracht. „Stolz sage ich, dass ich die Enkelin sowohl von Juden als auch von Kosovo-Albanern bin.“
Dankbar für Hilfe in Not
Auf der anderen Seite hätten sich Israel und das jüdische Volk 1999 im Kosovo-Krieg als erste gegen die ethnische Säuberung ausgesprochen. Israel habe 200 Flüchtlingen aus dem Kosovo Asyl gewährt, führte die Diplomatin weiter aus.
Als sie vor zwei Jahren unter schwierigen Umständen die Botschaft in Jerusalem aufgebaut habe, habe sie vor vielen Herausforderungen gestanden. „Andererseits hatte ich das Gefühl, es könne nicht schnell genug gehen, weil wir die vielen Jahre, in denen Israel und Kosovo keine diplomatischen Beziehungen unterhielten, aufholen mussten.“
Weiter sagte Demiri: „Ich spüre jeden Tag das Interesse der Israelis, eine Beziehung mit uns aufbauen zu wollen. Wir wiederum sind Profiteure von der Erfüllung von Herzls Vision, indem wir im Bereich Wirtschaft, IT und Innovationen mit Israel zusammenarbeiten. Unser Land ist nur halb so groß ist wie Israel mit nur 2 Millionen Einwohnern und Israel kann wohl am besten unsere Herausforderungen verstehen. Wir sind ein säkulares Land, erkennen aber fünf Religionen an, darunter das Judentum.“
Demiri ist überzeugt: „Wenn Herzl die heutigen Errungenschaften Israels sehen würde, wäre er wohl sehr stolz. Er legte den Samen für die Wandlung dieses Staates. Auch Menachem Begin war einer der politischen Führer, der den Erfolg dieses Landes erst möglich machte. Dafür danken wir ihnen.“
Herzls Vision für Demokratie
In einer Podiumsdiskussion sprachen Kalev und der neue Redaktionsleiter der „Jerusalem Post“ Avi Mayer unter Moderation von Amujal über das Wesen des jüdischen modernen Staates Israel. Auf eine Frage aus dem Publikum, was Herzl dazu sagen würde, dass Israel keine Verfassung hat: „Vielleicht hatte er gar nicht das Verständnis von Demokratie, das wir heute haben. Wahrscheinlich hätte er sich am ehesten eine konstitutionelle Monarchie gewünscht. Für Israel entwickelte er seine eigene Form von Demokratie.“ Auf jeden Fall hatter er aber einen jüdischen Staat im Blick, der den Zionismus unterstützte und Nichtjuden gleiche Rechte einräumte.
„Für viele Juden ist Herzl vor allem Folklore, aber wir sollten uns seine Einsichten viel mehr zunutze machen, um unsere heutigen Probleme anzugehen.“ (mh)