JERUSALEM (inn) – Die Knesset hat mit einer Mehrheit von 61 zu 47 Abgeordneten in dritter Lesung eine Änderung des Grundgesetzes zur Regierung beschlossen. Demnach wird dort künftig explizit festgeschrieben sein, wie und unter welchen Umständen ein regierender Premierminister für amtsunfähig erklärt werden kann. Bisher wird im Grundgesetz lediglich vorausgesetzt, dass ein Regierungschef amtsunfähig sein kann, es ist aber unklar, wie genau dies festgestellt wird.
Laut Mitteilung der Knesset ist nach der beschlossenen Änderung jetzt präzisier festgelegt, dass die Erklärung der temporären Amtsunfähigkeit zustande kommt, indem der Premierminister die Regierung und den Knessetsprecher darüber informiert. Anschließend muss noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit des sogenannten Knesset-Ausschusses, einer Art Geschäftsordnungsausschuss, entsprechend beschließen.
Alternativ kann auch die Regierung mit den Stimmen von drei Vierteln ihrer Mitglieder die Amtsunfähigkeit erklären, was dann noch durch zwei Drittel der Mitglieder des Knesset-Ausschusses bestätigt werden muss. In jedem Fall gilt aber, dass nur „körperliche oder geistige Unfähigkeit“ als Gründe für die Erklärung der Amtsunfähigkeit infrage kommen.
Koalition: Nur eine prozedurale Klarstellung
Zur Begründung hieß es laut Knesset, die Feststellung der Amtsunfähigkeit des Premierministers sei praktisch ein „Akt der Annullierung der Wahlergebnisse und des demokratischen Prozesses“. Daher müsse klargestellt werden, dass dieser Fall nur eintreten kann, wenn der Regierungschef physisch oder psychisch unfähig ist, seinen Pflichten nachzukommen.
Ausdrücklich betont wird, dass kein Gericht, auch nicht der Oberste Gerichtshof, über die Feststellung der Amtsunfähigkeit entscheiden soll. Da der Premierminister seine Macht vom Volk erhalte, soll er auch nur von Vertretern des Volkes aus dem Amt entfernt werden können. Das Gesetz stelle letztlich nur klar, wie geltendes Recht implementiert werden solle.
Opposition: Gesetz für Netanjahu
Der Beschluss kam nach einer nächtlichen Debatte kurz nach sechs Uhr am Morgen zustande. Anschließend schüttelten sich Netanjahu und sein Justizminister Jariv Levin (beide Likud) erfreut die Hand. Die Opposition wirft der Regierungskoalition vor, dass es sich um ein Gesetz zum Schutz von Netanjahu handelt.
Bereits im Januar hatte es Medienberichte gegeben, die Generalstaatsanwältin könne Netanjahu eine Auszeit verordnen wegen eines Interessenkonflikts, der zwischen Netanjahus Korruptionsprozess und der geplanten Justizreform bestehen könnte. Außerdem reichte eine oppositionelle Organisation beim Hohen Gericht den Antrag ein, Netanjahu für amtsunfähig zu erklären.
Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) erklärte, „wie Diebe in der Nacht“ habe die Koalition ein „übles und korruptes Gesetz“ verabschiedet. Netanjahu kümmere sich „wieder einmal nur um sich selbst“. Die Partei Israel Beiteinu kündigte an, das Gesetz vom Hohen Gericht überprüfen zu lassen. Israel dürfe keine „Monarchie der Netanjahu-Familie“ werden.
Anhaltende Proteste
Die Verabschiedung des Gesetzes fällt mitten in die Debatte um die von der Regierung angestoßene Reform des Justizwesens, die derzeit in Form mehrerer Gesetze in der Knesset beraten wird. Israelische Medien gehen davon aus, dass das Parlament in der kommenden Woche einen Kern der Reform verschieden könnte: die Neujustierung des Richterwahlausschusses. Andere Vorhaben wurden auf die Zeit nach dem Pessachfest verschoben, das Anfang April ansteht.
Derweil halten die Proteste gegen die Vorhaben der Regierung an. Für Donnerstag waren wieder Aktionen im ganzen Land angekündigt. In Tel Aviv blockierten erneut Demonstranten die Ajalon-Schnellstraße, die durch die Stadt führt. Verschiedentlich setzte die Polizei Wasserwerfer ein. Auch berittene Einsatzkräfte waren unterwegs. An mehreren Orten kam es zu Festnahmen.
Blick auf Gedenktage und Unabhängigkeitstag
Der Blick fällt auch bereits auf die anstehenden staatlichen Feiertag Mitte und Ende April. Benny Gantz (Nationale Einheitspartei) erklärte am Montag, er fürchte den Gedanken an den Gedenktag für die gefallenen Soldaten (Jom HaSikaron): „Werden die Proteste die Friedhöfe erreichen? Werden sich Waffenbrüder entzweien?“ Man werde den 75. Unabhängigkeitstag in einer „Atmosphäre der Trauer und der schrecklichen Zerrissenheit“ begehen.
Laut der Nachrichtenseite „Walla“ haben mittlerweile mehr als 90 Knesset-Abgeordnete – darunter Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) – einen Aufruf an „das gesamte Volk Israel“ unterzeichnet, davon abzusehen, die Debatte um die Justizreform „auf die Friedhöfe und in die heiligen Tage der israelischen Identität zu tragen“. Die Reihe der staatlichen Gedenk- und Feiertage beginnt in diesem Jahr am Abend des 17. April mit dem Holocaust-Gedenktag (Jom HaScho’ah). Am Abend des 24. April folgt der Gedenktag für die Soldaten (Jom HaSikaron), der am Abend des 25. April in den Unabhängigkeitstag (Jom HaAtzma’ut) übergeht. (ser)
14 Antworten
Kann Herrn Lapid nur unterstützen. Die Ehren – Feiertage dürfen nicht ausgenutzt werden.
Nun ist es also soweit. Ein Premier kann nur durch psychische Erkrankung oder eine Erkrankung generell abgesetzt werden. Wem ein Prozess ins Haus steht… kann sich beruhigt zurücklehnen. Richter dürfen nicht mehr?
Bei all seinen Verdiensten in früheren Jahren für Israel, wegen seiner Anklage, spaltet er Israel ohne Rücksicht auf innere und äußere Feinde. Frage? Wem nützt diese Gesetzesänderung sonst noch?
Ich bin mehr als enttäuscht.
Tut mir aufrichtig leid, dass ich dies als Jude schreiben muss. Shalom
OT:
Eddie, was sagst Du als Jurist dazu?
„Tut mir aufrichtig leid, dass ich dies als Jude schreiben muss. Shalom“
Sie müssen sich für die Wahrheit nicht entschuldigen.
Danke, liebe Iris.
Dieses Gesetz nützt all jenen, die einfach aus dem Amt entfernt werden (sollen), weil sie nicht dem ideologischen Weltbild der Justiz in Israel (fast ausschließlich Linke) entsprechen. Es kann nicht sein, dass Richter (die eben NICHT vom Volk gewählt werden – darum dreht sich ja ein Großteil der Justizreform) entscheiden können, wer in Israel etwas zu sagen hat! Als Jude sollten Sie das wissen … Shalom 🙂
Dass N. auf seine späten Tage als Ministerpräsident seinen auch bei sich eher in der Mitte oder gemässigt links davon Einordnenden anerkannten Ruf so leicht ruiniert, das überrascht mich.
Obs justiziabel ist, da bin ich unsicher. Einerseits bin ich für eine seriöse Beurteilung zu lange aus dem israelischen Recht „draussen“. Andererseits ist Israel ja zusammen mit D.-schland eine der ganz wenigen westlichen Demokratien ohne förmliche Verfassung. Der Ex-Türsteher moldawischer Herkunft, Avidgor L., hat aber schon angekündigt, das Höchste Gericht anzurufen. Ergebnis mE offen.
Die Uhrzeit der Verabschiedung des Gesetzes (morgens um 6, wo unsereins den Kaffee aufsetzt). Die spricht mE Bände.
Nur zwei Anmerkungen zu Jobson:
In Deutschland wurde nach der Wiedervereinigung und dem formalen Auslaufen des Siegermächte-Vorbehalte bestimmt, dass das Grundgesetz das auch formal ist, was es vorher schon faktisch war: Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.
Bezüglich GB/UK und Israel sprach man oft fälschlicherweise von reiner „ungeschriebenen Verfassung“. In beiden Fällen handelt es sich aber lediglich um eine nicht in einem zusammenhängenden Stück geschriebene Verfassung. In Israel wird die Funktion der Verfassung von der Unabhängigkeitserklärung und den Grundgesetzen für verschiedene staatliche und gesellschaftliche Bereiche übernommen.
Im deutschen GG wird die Immunität geregelt, die m.E. sehr weitgehend Betroffene schützt.
Es können durch Beschluss des BT Verfahren, zum Artikel 18, sogar bis hin zur Haft, ausgesetzt werden, was für den einfachen Bürger nicht gilt.
Dass kriminelle Einkommenserzielungen wie Korruption nicht mehr zur Absetzung ausreichen, ist eine logische Konsequenz der sog. Justizreform. Denn deren Ziele sind teilweise Selbst-Exkulpationen führender Regierungspersonen sowie indirekt materielle (Befreiung vom Wehrdienst) sowie direkte materielle (staatliche Subventionszahlungen an religiöse Personen und religiöse Organisationen, aus Steuergeldern). Das bisher gezeigte, Degoutante ist sicher noch nicht das Ende der Selbstbereicherungen. Da lässt sich aus den Arbeitenden sicher noch mehr rausholen.
Es geht hier einfach um den Kampf der Systeme. Die politische Linke hat sich in der Vergangenheit schon der Gerichte bemächtigt und will mit Zähnen und Klauen ihre Macht behalten, um weiter in der Politik mitmischen zu können. In der Knesset geht das nicht mehr, weil Parteien wie die Meretz vom klugen israelischen Wahlvolk in die Wüste geschickt wurde. Bleiben also nur noch außerparlamentarische Institutionen. Der Wählerwille soll, wie anderswo auch, ausgeschaltet werden und keine Rolle spielen.
Das ist richtig. Und noch etwas sollte auch klar gestellt werden. Es betrifft zwar jetzt Netanjahu. Aber auch die nächsten Ministerpräsidenten profitieren davon. Und auch da kann es „nützlich“ sein.
Was die linken angeht: man sollte vielleicht weniger auf Krawall setzen, sondern sich um die Wähler bemühen. Man hat doch in den letzten Jahren gesehen, dass eine Mehrheit möglich ist. Aber nicht mit aussitzen, sondern mit aktiven Handeln. Bislang konnte sich die Linke auf die „Regierung“ im Gericht verlassen, das wird nicht mehr gehen. Da sollte man wohl die eigenen Mehrheiten suchen. Nennt sich dann Demokratie.
Die angeblich für Demokratie eintretende christin ist also für den Abbau des Rechtsstaates. Interessant! Damit hat sie sich mit Recht außerhalb jeder demokratischen Diskussion gestellt.
Wo wohl Ihre Vorbilder sein mögen? Orbans „illiberale“ Demokratie, Putin, China? Zwischen rechten und linken Antidemokraten zu unterscheiden, ist zumindest partiell obsolet. Kein Wunder, dass sich Trump mit den führenden Politikern von Russland, China und Nord-Korea bestens verstanden hat. Vielleicht ja auch bald Netanjahu und diese Politiker?! Nicht-Demokraten unter sich eben!
@ F.Voigt:
Ja, die bösen Linken. Gefährliche Marxisten wie Lapid, Liebermann, Gantz… und als Rudelführer Herzog… .
Typen wie Trump, Orban, Melloni, Johnson , Duda , Bolzonaro und eben BN werden im-
mer versuchen , die Rechtssprechung einzugrenzen oder in ihrem Sinne umzumodeln.
Ansonsten stößt ihre Rechtspopulistische Politik immer an die Systemgrenze, weil eine
unabhängige Justiz die Systemgrenze IST. Also versucht man, mit scheinlegalen Manö-
vern diese auszuhebeln. ist das erst mal geschafft, folgt sodann die Perpetuierung der
Macht mit Verfassungsänderungen per Verordnung [z.b. Türkei] oder Wahlbeschrän-
kungen mißliebiger Gruppen[USA, Bundesstaatsebene] oder Parteien/Politiker [Türkei]
Die aktuelle Krise in Israel sehe ich so, das man hier NICHT nachlassen darf, und das
man SOLANGE protestieren muß, bis die Regierung fällt, das Volk sollte sich mit weni-
ger nicht zufriedengeben. Sonst wäre das allenfalls ein Aufschub wie etwa in München
Ich frage mich, wie man Vetternwirtschaft bei der Besetzung von Richterstellen am Höchsten Gericht mit Rechtstaat verwechseln kann. Es ist nun mal die Tatsache, dass die Richter bislang sich selbst ernannt haben. So nach dem Motte: ich kenn da jemand, der will auch, wählen wir ihn. Und diese Regelung ging nicht durch die Knesset, ne ein Richter bestimmte, dass es künftig so sein soll. Und jeden, der ihm gefährlich werden konnte, hat er somit das Richteramt verwehrt. Das nennt sich Vetternwirtschaft.
Die Mehrheit der Israelis will eine Justizreform, sie will sie nur nicht in der Weise, die die Regierung will.
Hier muss dringend gearbeitet werden, dass ein Kompromiss gefunden wird, der dann auch über die nächsten Jahrzehnte – egal welche Regierung an der Macht ist – Bestand hat. Ich würde mir wünschen dass die Politiker aller Parteien über ihren Schatten springen und sich zusammenraufen.
Dass dies funktionieren kann, das haben die Bewohner von Bnei Brak am vergangen Donnerstag gezeigt. Da haben sich Demonstranten auf den Weg gemacht, die orth. Gemeinde bei Tel Aviv zu provozieren. Sie wurden mit Liebe empfangen, mit Getränken,mit Essen, Und bekamen es Dank des eingeschalteten Verstandes der Bewohner von Bnei Brak hin,dass die Provokation mit Singen, Tanzen, Feiern endete.
Hoffen wir, dass dieses Bespiel auch in die Politik hineinwirkt. Das Durchpeitschen der Reform ist genauso wenig zielführend wie die Aufstachelung zu Politikermord auf den Demos,an denen Lapid und Gantz teilnehmen. Und nicht zu Frieden aufrufen, sondern die Aufstachelung zu lassen. Judentum geht anders.