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Was war vor der Wahl über die Justizreform bekannt?

In der Knesset wird die Justizreform vorangetrieben. Premier Netanjahu betonte, damit dem Wunsch der rechtskonservativen Wähler zu entsprechen. Doch gerade diese Kreise hegen immer mehr Zweifel an der Reform und an der Umsetzungsweise.
Von Antje C. Naujoks
Ein Israeli gibt bei den Knessetwahlen 2022 seine Stimme ab

Seit Wochen sind Abendnachrichten in Israel wegen einer Flut von Themen nicht selten anderthalb Stunden lang. Dennoch steht in Israels Parlament und in der Gesellschaft ein Thema ganz oben auf der Tagesordnung: die Justizreform. Am 4. Januar 2023 informierte Israels Justizminister Jariv Levin (Likud) die israelische Öffentlichkeit über vier von ihm als „essentiell“ bezeichnete Bausteine seiner Justizreform. Diese Pressekonferenz berief er nur knapp eine Woche, nachdem er sein Amt antrat, ein. Seine Ausführungen bezogen sich nicht auf den zeitlichen Rahmen der Umsetzung.

Durch Israels Opposition ging ein sofortiger Aufschrei. Organisationen, die im Bereich der Bürger- und Menschenrechte aktiv sind, schlugen Alarm. Nur drei Tage später, am 7. Januar, fanden sich erstmals Gegner der Justizreform zu einer Kundgebung in Tel Aviv zusammen. Ab dem zweiten Wochenende waren es nicht mehr nur Kundgebungen in Tel Aviv, sondern auch in anderen Städten des Landes.

Das machte Schlagzeilen und veranlasste Premier Benjamin Netanjahu (Likud) auf der sonntäglichen Kabinettssitzung am 15. Januar zu folgender Nebenbemerkung: „Vor einigen Monaten gab es eine riesige Demonstration, die Mutter aller Demonstrationen. Millionen von Menschen gingen auf die Straße, um an der Wahl teilzunehmen. Eines der Hauptthemen, über die sie abstimmten, war die Reform des Justizsystems.”

Erste Umfragen

In den Straßen schwollen unterdessen die Massen an, die immer lauter „De-mo-kra-tia“ skandieren. Knesset-Mitglied Gilad Kariv (Arbeitspartei) stellte als einer der ersten Abgeordneten Ende Januar die Behauptung auf, dass „die Mehrheit der israelischen Gesellschaft (…) gegen die Reform ist“. Tatsächlich lagen zu dem Zeitpunkt bereits Umfragen vor, die seine Aussage allerdings nicht bestätigten.

Zunächst gaben Umfragen an, dass 39 Prozent der Befragten gegen die Reform sind und sich 29 Prozent dafür aussprechen. Die nächste herausgegebene Umfrage ergab einen Gleichstand von jeweils 36 Prozent für die Reform wie auch dagegen. Kurz darauf hieß es: 55 Prozent sprechen sich gegen die Reform aus, während 17 Prozent dafür sind und 28 Prozent es nicht wissen.

Diese Erhebungen wurden von Nachrichtensendern durchgeführt und umfassten eine einzige Frage. Experten gaben zu bedenken, dass ein so komplexes Thema wie die Justizreform umfragetechnisch eine Herausforderung darstellt. Der Fragenkatalog müsse unbedingt breiter aufgefächert sein, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Das, so meinten sie, sei umso dringender erforderlich, weil sich die Stimmen mehren, die sich für Änderungen im Justizwesen aussprechen, aber mit der von Levin geplanten Reform nicht glücklich sind.

Widersprüche

Ende Februar veröffentlichte das Israelische Demokratie-Institut eine Umfrage, die mehr Detailfragen in die Tiefe evaluierte und überdies Bezug auf die Identität der Befragten nahm, das heißt Juden und Araber, Wähler der Koalitions- und Oppositionsparteien. Es ergab sich folgendes Bild: 66 Prozent sind gegen eine Beschneidung der Zuständigkeiten des Obersten Gerichtshofes, 63 Prozent wollen nicht, dass ausschließlich Politiker Richter ernennen, und 58 Prozent geben an, dass die Rolle des Generalstaatsanwaltes als juristischer Berater der Regierung beibehalten werden sollte. Satte Mehrheiten gegen die Reform in ihrer von Justizminister Levin angedachten Form.

Darüber hinaus förderte diese Umfrage zutage, dass der Prozentsatz der Gegner unter Wählern der Oppositionsparteien zumeist deutlich über 80 Prozent liegt. Allerdings gehen demnach auch zwischen 40 und 47 Prozent der Likud-Wähler auf Abstand zur Reform. Der Prozentsatz der Zauderer unter den Wählern der ultra-orthodoxen Shass-Partei liegt noch höher, während der Anteil unter den zweifelnden Wählern der Religiösen Zionisten leicht unter dem jener Wähler rangiert, die ihre Stimme dem Likud gaben.

Auch wenn man bei Umfragen immer gewisse Vorbehalte haben sollte, so erregte das Aufmerksamkeit. Denn das Ergebnis steht im Widerspruch zu einer weiteren Ausführung, die Premier Netanjahu in den öffentlichen Diskurs zugunsten der eingeleiteten Justizreform einbrachte: „Die Millionen von Bürgern, die für das rechte Lager gestimmt haben, wussten über die Absicht, eine umfassende Reform im Justizwesen umzusetzen, Bescheid. Mehr noch: Sie forderten genau das von uns!“

Fragezeichen werden immer größer

Für viele Israelis reflektieren die durch die Medien geisternden Prozentsätze, was sie subjektiv wahrnehmen. Mehr und mehr Stimmen auch des rechtskonservativen Lagers melden Zweifel an der Reform an. Noch mehr Stimmen dieses Spektrums fordern ein Innehalten und eine Debatte über die Inhalte, um herauszufinden, was denn nun gut für Israel ist.

Folglich richteten die Journalisten ihr Interesse auf eine Reihe von Fragen: Wenn eine Abstimmung für die israelische Rechte bei der Knesset-Wahl zugleich eine Bekundung pro Reform war, wieso nehmen dann inzwischen so viele Wähler dieser Parteien Abstand davon? Was haben Israels Wähler überhaupt über die Justizreform gewusst, als sie im November 2022 zur Wahl gingen? Folglich begannen Journalisten in den Medienarchiven herumzukramen, um das Gedächtnis aller aufzufrischen.

Erhellender Rückblick

Zunächst riefen einige israelische Medien in Erinnerung, dass Premier Netanjahu am Tag der Vereidigung der neuen Regierung Ende Dezember vier zentrale Ziele seiner Koalition präsentierte. An diesem 29. Dezember 2022 führte er dazu aus: 1. Ausbremsen des Iran, 2. Wiederherstellen des Sicherheitsgefühls innerhalb des Landes, 3. Maßnahmen gegen hohe Lebenshaltungskosten und Wohnungsnotstand sowie 4. ein dramatischer Ausbau des „Friedenskreises“, sprich, es sollen noch mehr arabische Staaten für die Abraham-Abkommen gewonnen werden.

Diese Ausführungen des frischgebackenen Premiers Netanjahu gingen durch alle Medien des Landes; Radio und Fernsehen, digitale Medien wie auch gedruckte Presse. Alle nahmen diese Ziele wahr, keiner vermisste die Justizreform, denn Justizminister Levin wartete damit erst danach auf.

Doch in den Medienarchiven fand sich noch mehr, was erklärt, warum die Justizreform nicht nur bei Antritt der Regierung nicht in aller Munde war, sondern inzwischen mehr als die Hälfte der Wähler des rechtskonservativen Lagers angibt, nichts darüber gewusst zu haben.

Ihr Gedächtnis täuscht sie nicht. Alle wussten, dass auf der Tagesordnung des Likud mit Rückkehr an die Regierungsmacht Veränderungen im Justizwesen stehen. Auch das Wort „Justizreform“ kursierte. Doch es finden sich viele Interviews, in denen auf das Wahlkampfprogramm ihrer Partei angesprochene Likud-Abgeordnete Bitten der Journalisten um Detailangaben ausschlagen, weil die schlichtweg nicht relevant seien.

Reform heruntergespielt

Laut journalistischer Recherchen spielten Likud-Politiker im Wahlkampf die Reform herunter. Auch Netanjahu hielt sich bedeckt. Auf Fragen zu konkreten Sachverhalten möglicher Revisionen im Justizwesen meinte er im Wahlkampf: „Das könnte sein“, „Wir werden sehen, jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu reden“ oder „Ja, das ist eine Möglichkeit, wir werden über alle Optionen diskutieren“- Ein Journalist blieb hartnäckig: „Aber das sind brennende Themen …“ Worauf Netanjahu entgegnete: „Aber ich beabsichtige sie nicht jetzt umzusetzen.“

Somit darf auch nicht verwundern, dass die Justizreform in ihrer von Levin Anfang Januar verkündeten Form weder im Wahlkampf noch bei den vom Likud abgeschlossenen Koalitionsabkommen eine Rolle spielt. Das legt nicht nur offen, dass haltlose Behauptungen seitens der Führungsspitze des Likud in den Raum gestellt wurden, was Wissen und Wunsch der Wählerschaft angeht. Es erklärt auch, warum einige Medien die Pressekonferenz von Levin als „Aufdeckung“ und „Enthüllung“ der eigentlichen Reformpläne des israelischen Justizwesens bezeichneten.

Und wie weiter?

Vor diesem Hintergrund mag besser zu verstehen sein, warum vor allem Gegner der Reform zum einen über die als aggressiv empfundene Umsetzung und zum anderen über die schnelle Taktung der erforderlichen Entscheidungen im Knesset-Justizausschuss wie auch im Plenum so sehr aufgebracht sind. Sie fühlen sich regelrecht überfahren von einer Regierung, die zwar über die Mandatsmehrheit verfügt, aber im Grunde genommen nur auf eine hauchdünne Mehrheit der Wählerstimmen blickt. An der Koalition sind Parteien beteiligt, die im Namen der von ihnen repräsentierten Minderheiten vielseitige Bestrebungen verfolgen, die weit abseits des gesellschaftlichen Konsenses liegen. Dieses Vorgehen wird als machttrunken und diktatorisch empfunden.

Nicht nur Staatspräsident Jitzchak Herzogs Dialogforderung blieb unerhört in der Luft hängen, sondern auch der erst in diesen Tagen ergangene Aufruf des Likud-Abgeordneten und ehemaligen Knesset-Sprechers Juli Edelstein, der sich für ein Aussetzen der Reform ausspricht. In demokratischer Tradition sollten sich die Seiten zusammensetzen und einen gemeinsamen Nenner finden. Er sagte zudem, dass weitere Likud-Abgeordnete seine Ansicht teilen.

Bislang scheint sich jedoch nichts in Sachen Dialog zu bewegen, denn die Vorbereitungen zu den Abstimmungen in der Knesset werden unvermindert vorangetrieben. Das trägt zudem massiv dazu bei, dass viele an der zugesicherten Dialogbereitschaft der Regierung Zweifel hegen.

Schon nächste Woche wird der Punkt erreicht, an dem das Rad der Reform nicht mehr zurückgedreht werden kann, solange diese Regierung im Amt ist. Wenige in Israel wundert es, dass Unkenrufe über die Lebensdauer der Koalition bereits seit einigen Wochen vor allem aus den Reihen der Likud-Abgeordneten dringen.

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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4 Antworten

  1. Mal ehrlich, mich regt das richtig auf! Im Wahlkampf Aussagen von Likud: Könnte sein, wir werden sehen usw.
    Nennt man das Wählertäuschung, als Frage gestellt?
    Das sich Hisbollah, News, zu Wort meldete über die Justizreform, es wäre Ende Israels? Diese Terroristen im Libanon/Golan sollten mal in den Iran blicken, zu ihren Finanziers, was die gerade mit den Mädchen machen. Jeden Tag sind welche vergiftet lt. Medien.
    Obwohl ich zustimme, das alles ist nicht gut für Israel.
    Trotzdem wünsche ich unserem Volk Chag Purim sameach.

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  2. Liebe Leserinnen und Leser, shalom. Als Israeli, der in Israel auch VOR der Wahl war, darf ich Ihnen bestätigen, dass die Reformvorhaben sehr wohl VOR der Wahl jedem bekannt waren! 100% ! Man sollte jetzt bitte nicht die Geschichte neuschreiben. 2,3 Millionen Wähler können es gern bezeugen. Der Artikel der Frau Naujoks ist leider etwas einseitig pro Opposition. Das ist natürlich erlaubt. Ich würde nur der Leserschaft klarmachen, dass wichtige Argumenteder Regierung im langen und interessanten Artikel entweder falsch oder überhaupt nicht erscheinen. Alles schreibe ich ohne eine Position zur Reform selber zu beziehen. Jeder hat das Recht auf seine Meinung. Der Leserschaft des wunderbaren ISRAELNETZ sollten BEIDE Seiten dargestellt werden. Beispiel: Netanyahu hat bereits VOR DER WAHL den RA Moshe Saada, den früheren Vize-Chef der Polizei-Kontroll-Abteilung der Staatsanwaltschaft auf Platz 28 der Likud Partei nominiert. Das fehlt im Artikel. Jeder konnte von RA MK Moshe Saada, RA MK Yariv Levin, RA MK Amir Ochana und RA MK Simcha Rothman die Reformvorhaben in Wahlreden und unzähligen Interviews genau mitbekommen. Die These der Reorterin, ist mit verlaub, vollkommen falsch und m.E. irreführend, als hätte jemand im Land nicht im Voraus gewusst, dass diese Justizreform kommt. Das stimmt schlicht und ergreifend nicht! Wenn der Artikel klar als einen Meinungsbeitrag präsentiert worden wäre, wäre es kein Problem. Aber der Artikel täuscht vor, ein Faktenbericht zu sein, in dem aber leider eine Seite der Politik nicht fair zu Wort kommt. Mit herzlichem Schalom aus Israel, Ari Lipinski

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    1. Toda raba, Ari, das finde ich jetzt auch sehr wichtig, dass das hier so klar und deutlich formuliert wurde.
      Schon lange haben wir uns nicht mehr gesehen….

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