JERUSALEM (inn) – Mehr als die Hälfte der Juden, die der nationalsozialistischen Vernichtung zum Opfer fielen, wurde an den Ort der Ermordung deportiert. In diesem Jahr steht das Leiden während der Deportationen im Mittelpunkt des israelischen Gedenktages für die Märtyrer und Helden des Holocaust, Jom HaScho’ah. Er beginnt am Abend des 27. April.
Traditionell werden bei der zentralen Veranstaltung in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem sechs Fackeln entzündet. Sie stehen für die sechs Millionen ermordeten Juden. Die Überlebenden, die in diesem Jahr für die Zeremonie ausgewählt wurden, haben unterschiedliche Biographien. Aber jeder von ihnen hat während der Deportation Schweres durchgemacht, wie die „Jerusalem Post“ berichtet.
Zvi Gill
Einer der Fackelanzünder ist Zvi Gill. Er wurde 1928 als Zvi Glazer im polnischen Zduńska Wola geboren. Seine Eltern, Israel und Esther, waren wohlhabende ultra-orthodoxe Juden. Im Frühjahr 1940 errichteten die Nationalsozialisten in seinem Heimatort ein Ghetto; es wurde im August 1942 aufgelöst.
Der Vater und die Brüder von Zvi wurden nach Chelmno gebracht und in einem Gaslastwagen getötet. Er wurde mit seiner Mutter, einer Krankenschwester, in einem Viehwagen nach Lodz transportiert. Im dortigen Ghetto schloss sich der Junge der zionistischen Jugendbewegung an.
Nachdem auch dieses Ghetto aufgelöst war, wurden die beiden nach Auschwitz deportiert. Dort leistete Zvi Zwangsarbeit in einer Fabrik zur Reparatur von Flugzeugen.
Als sich die Rote Armee näherte, kam er nach Dachau und dann in ein weiteres Lager in Deutschland. Während eines heftigen Schneesturmes brach er zusammen – und erhielt unerwartete Hilfe: „Ein älterer deutscher Aufseher rettete mein Leben. Er zog mir die nassen Kleider aus, trocknete sie und gab mir eine Scheibe Brot mit Marmelade.“
Nach der Genesung von einer Typhuserkrankung wurde er in einem Zug mit unbekanntem Ziel transportiert. Bei Luftalarm mussten die Häftlinge die Waggons verlassen und sich auf den Boden legen. Dabei gelang ihm die Flucht. Im Haus eines deutschen Bauern stellte er sich als Pole vor. Er arbeitete, dafür erhielt er Essen und Unterkunft – bis zur Befreiung.
Zvi Gill wanderte 1945 ins britische Mandatsgebiet Palästina aus, seine Mutter kam zwei Jahre später nach. Er arbeitete als Journalist beim israelischen Rundfunk und gehörte zu den Gründer des israelischen Fernsehens. Mit seiner Frau Jehudit hat er drei Töchter, zehn Enkel und drei Urenkel.
Schmuel Blumenfeld
Aus einer Familie von Rabbinern und Schriftgelehrten stammt Schmuel Blumenfeld. Er wurde 1926 in der polnischen Stadt Krakau geboren. Kurz danach zog die siebenköpfige Familie ins weiter nördlich gelegene Proszowice. Mit der deutschen Besatzung kam sie ins Arbeitslager Plaszow, dort wurde Schmuels Vater ermordet.
Im Juni 1942 wurde der Junge Zeuge einer „Aktion“. Dabei nahmen die Nazis willkürlich Juden fest. Er floh die 40 Kilometer zurück nach Proszowice, und von dort weiter ins Krakauer Ghetto. Dieses wurde im März 1943 aufgelöst. Schmuel wurde nach Auschwitz deportiert. Er leistete Zwangsarbeit in einer Kohlemine.
Weil die Rote Armee anrückte, musste er sich am 18. Januar 1945 einem Todesmarsch anschließen. Er gelangte in die Lager Buchenwald und Reimsdorf. Im April folgte ein weiterer Todesmarsch ins Ghetto Theresienstadt. Dort befreiten ihn im Mai sowjetische Soldaten.
Schmuel erfuhr, dass seine Familie getötet worden war. Er half der „Bricha“-Bewegung – das hebräische Wort bedeutet „Flucht“. Die Organisation unterstützte die illegale Einwanderung von Überlebenden der Scho’ah nach Westeuropa auf dem Weg nach Eretz Israel.
Er selbst wanderte 1948 nach Israel ein. Er arbeitete für die Gefängnisbehörde. Beim Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann war er einer der Wärter: „Ich zeigte ihm die Nummer auf meinem Arm und sagte: ‚Sehen Sie? Dies ist eine authentische Nummer. Ich war zwei Jahre in Auschwitz und habe überlebt“, sagte er dem NS-Kriegsverbrecher.
Mit seiner Frau Rivka hat Schmuel Blumenfeld zwei Kinder, sechs Enkel und sieben Urenkel.
Olga Kay
Als Olga Czik kam Olga Kay 1926 in der ungarischen Stadt Ujfeherto zur Welt. Sie war das neunte von zehn Kindern in einer religiösen Familie. Am 15. April 1944 wurden sie in das Dorf Simapuszta deportiert.
Von dort aus ging es weiter nach Auschwitz, die Juden waren drei Tage unterwegs. Der größte Teil der Familie wurde gleich nach der Ankunft ins Gas geschickt. Olga und ihre Schwester Eva wurden zur Zwangsarbeit eingeteilt.
Im Juli 1944 kamen sie ins KZ Kaufering bei München. Dort überlebte Olga mit anderen jüdischen Mädchen auf wundersame Weise einen Luftangriff. Im November folgte die Deportation nach Bergen-Belsen. Einen Monat später traf auch ihre Schwester Bella in dem Lager ein.
Die drei Jüdinnen wurden am 15. April von den Briten befreit. Eva starb bald danach, Olga und Bella fuhren zur Erholung nach Schweden. Von dort wanderte Olga nach New York aus. Sie lernte ihren späteren Ehemann George kennen und gründete eine Familie.
„Als meine Tochter Evelyn geboren wurde, war mein erster Gedanke: Das ist mein Sieg über Hitler. Wir sind aus der Asche zurückgekehrt“, zitiert die „Jerusalem Post“ die Überlebende. 1985 wanderte Olga Kay mit ihrer Familie nach Israel ein. Das Ehepaar hat zwei Töchter, fünf Enkel und 16 Urenkel.
Arie Shilansky
Zionistisch geprägt war die Familie von Arie Shilansky. Er wurde 1928 als jüngstes von vier Kindern im litauischen Siauliai geboren. Kurz darauf starb der Vater.
Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen entstand ein Ghetto, in dem die Familie leben musste. Im November 1943 gab es eine „Kinder-Aktion“. Arie floh in ein jüdisches Warenlager, wo ein Vorarbeiter ihn und andere Kinder versteckte. Damit sie sich ruhig verhielten, erzählte ihnen Arie Geschichten.
Im Juli 1944 rückte die Rote Armee heran, das Ghetto wurde evakuiert. Die Nationalsozialisten schickten die Bewohner nach Westen, sie waren mehrere Tage in einem völlig überfüllten Viehwaggon unterwegs.
Anfang 1945 kam Arie ins Lager Landsberg. Dort traf er seinen Bruder Dov wieder. Nach einem Todesmarsch befreiten ihn die Amerikaner. Er wurde mit seiner Mutter und den Schwestern vereint.
Im Krankenhaus im deutschen St. Ottilien-Kloster erhielt er Besuch von einer Gesandtschaft der Jüdischen Brigade: „Das war eine Überraschung“, erinnert er sich. „Wir glaubten nicht, dass es noch Juden in der Welt gab. Sie versprachen uns, dass sie bald wiederkommen und uns ins Land Israel bringen würden. Dieses Ziel gab uns Stärke.“
Etwa zwei Wochen später brachten ihn Mitglieder der Brigade nach Italien. Von dort aus wanderte er im Februar 1948 ins Mandatsgebiet Palästina ein. Nach der Gründung des Staates Israel kämpfte er wie viele andere Überlebende im Unabhängigkeitskrieg. Mit seiner Frau Ruth hat er drei Kinder, sechs Enkel und fünf Urenkel.
Schaul Spielmann
Aus Wien stammt Schaul Spielmann. Er kam 1931 als einziges Kind von Jossefa und Benno auf die Welt. Einen Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 wurde er vom Schulunterricht ausgeschlossen.
Zwei Tage später brachen SA-Offiziere in die Wohnung der jüdischen Familie ein. Sie bedrohten Schauls Eltern mit dem Tod, wenn sie ihnen nicht alle Wertsachen gäben. Daraufhin lebte die Familie beim Großvater.
Im September 1942 wurden die Spielmanns nach Theresienstadt gebracht, im November 1943 folgte die Deportation nach Auschwitz. Schauls Mutter starb auf der Krankenstation.
Der Vater arbeitete im Konzentrationslager als Urkundenbeamter. Dabei versetzte er Schauls Namen auf eine Liste älterer Jungen und rettete ihn dadurch vor dem Tode.
Schließlich wurde der Vater erneut deportiert. Schaul erinnert sich: „Ich sah meinen Vater unter den Häftlingen. Er signalisierte mit seiner Faust: ‚Halte durch‘. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah.“
Der Junge musste sich im Januar 1945 einem Todesmarsch anschließen. Er wurde im oberösterreichischen Gunskirchen von den Amerikanern befreit.
Nachdem er von einer Typhuserkrankung genesen war, wanderte er nach Eretz Israel ein. Er kämpfte in allen israelischen Kriegen bis zum Jom-Kippur-Krieg 1973. In der Wüste Negev arbeitete Schaul Spielmann für den Rettungsdienst „Magen David Adom“. Mit seiner Frau Myriam hat er sieben Kinder, 18 Enkel und sieben Urenkel.
Rebecca Elizur
Die sechste Überlebende ist Rebecca-Branca Lissauer (später Elizur). Sie wurde 1934 in Amsterdam geboren. Ihre Eltern hießen Jack und Rosalie-Rachel, sie hatte einen älteren Bruder.
Als die Deutschen im Mai 1940 einmarschierten, besuchte Rebecca die 1. Klasse. Die Familie kam ins Transitlager Westerbork, von dem ab 1942 wöchentlich Deportationszüge nach Osten abfuhren.
Familie Lissauer wurde jedoch nicht nach Osteuropa, sondern nach Bergen-Belsen bei Celle transportiert. Hintergrund war ein Austausch. Deutsche, die von den Alliierten festgehalten wurden, kamen dafür frei.
Rebecca und ihre Mutter wurden vom Rest der Familie getrennt. „Wir litten unter furchtbarem Hunger“, erzählt die Überlebende. „Meine Mutter hielt am Glauben fest, auch als sie sehr schwach war. Sie ermutigte die anderen Häftlinge.“
Im April 1945 wurden sie in einen Zug mit unbekanntem Ziel gesetzt. Bei einem Bombenangriff mussten die Passagiere herausspringen und auf den Boden legen. Ein ein paar Tage später wurden sie von der Roten Armee befreit.
Rebecca Elizur studierte in Amsterdam Soziale Arbeit. 1959 emigrierte sie nach Israel. Mit ihrem Mann Dov hat sie zwei Töchter, neun Enkel und fünf Urenkel. (eh)