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Ukrainische und russische Israelis

Der russische Überfall auf die Ukraine verändert die Wahrnehmung nationaler Identitäten. In Israel leben Ukrainer wie auch Russen; unter ihnen sind Juden wie auch Nichtjuden. Wie kommen sie in so turbulenten Zeiten miteinander aus?
Von Antje C. Naujoks

Seit Beginn der russischen Offensive gegen die Ukraine sind Millionen von Menschen in Bewegung. Wegen der Kriegshandlungen treffen auch in Israel mehr Menschen ein als sonst. Einige sind überstürzt geflohen, andere hatten die Gelegenheit, die lebensverändernde Reise geordneter anzutreten.

Die in Israel eintreffenden Kriegsvertriebenen

Im Vergleich zu dem Menschenstrom, der in Europa zu spüren ist, nimmt sich die Zahl der in Israel wegen des Ukraine-Krieges Eintreffenden überschaubar aus: Bis Mitte März waren es rund 21.000 Personen. Doch wie immer, wenn der Blick Richtung Israel gerichtet ist, entfaltet sich ein extrem facettenreiches Bild. Das ist keineswegs ausschließlich auf die individuellen Schicksale zurückzuführen, die diese Menschen im Gepäck haben.

Bei fast 6.000 Personen, die seit dem 24. Februar auf dem Ben-Gurion-Flughafen eintrafen, handelt es sich um jüdische Neueinwanderer, auch Olim genannt. Ihnen stehen mit Ankunft im Land alle Staatsbürgerrechte ebenso wie besondere Starthilfen zu, um sich in Israel ein neues Leben aufbauen zu können. Mehr als 3.500 dieser Olim stammen aus der Ukraine. Die anderen traten ihre Alija nach Israel aus Russland und Belarus an.

Zusammen mit ihnen trafen 15.000 ukrainische Bürger in Israel ein, denen nicht das Recht auf Einwanderung zusteht, da sie weder entsprechend des jüdischen Religionskodex noch nach den Kriterien des sogenannten Rückkehrgesetzes als Juden gelten. Auch wenn unter ihnen 6.000 Menschen sind, die Verwandte im Land haben, so stuft Israel sie als Flüchtlinge ein und gewährt einstweilen Touristenvisa. Über andere Regelungen für diese heimatlosen Menschen, wie Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, diskutiert Israels Regierung gegenwärtig noch.

Die russischsprachige Gemeinschaft in Israel

Diese zurzeit in Israel eintreffenden Personen stoßen im Land auf eine Gemeinschaft russischsprachiger Juden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebte Israel eine Masseneinwanderung. Laut Angaben des Israelischen Landesamtes für Statistik leben in Israel 1,2 Millionen Bürger mit Anbindung an die ehemalige Sowjetunion. Sie stellen mit fast 13 Prozent eine nennenswerte Gruppe der 9,3 Millionen Bürger des Landes.

Die Mehrheit der russischsprachigen Israelis stammt aus Staaten, die heute zur Russischen Föderation zählen. Israels Statistiken beziffern die Zahl der ukrainischen Olim auf über 200.000 Personen. De facto ist die Zahl der Israelis, die sich als Ukrainer verstehen, noch höher anzusetzen, da die Behörden diese nationale Herkunft erst nach Deklaration der ukrainischen Unabhängigkeit im Sommer 1991 zu erfassen begannen. Zählt man ihre im Land geborenen Nachfahren hinzu, so kommt die Gemeinschaft der Israelis mit ukrainischer Anbindung schätzungsweise auf mindestens 400.000 Personen.

Politisch-gesellschaftliches Neben-Miteinander

Landauf, landab stößt man in Israel auf Bürger, deren Muttersprache oder Alltagssprache Russisch ist; einerlei, wie lange sie bereits in Israel leben. Gerade die Einwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion haben sich beruflich und somit auch wirtschaftlich und ebenfalls sozial bestens integriert. Trotzdem pflegen sie, so wie viele andere Gruppen der heterogenen Gesellschaft Israels, parallel ein russisch geprägtes Gesellschaftsleben. Bei der Wahrung ihrer russischen Kultur in all ihren Facetten kommt bezüglich dieser Gruppe zum Tragen, dass sie aufgrund ihres bloßen zahlenmäßigen Umfangs sehr präsent ist. Ihr enormer Anteil an der Gesamtbevölkerung ermöglichte es zudem, umfassendere Strukturen aufzubauen.

Das schlägt sich keineswegs nur in russischsprachigen Zeitungen, sondern beispielsweise in der Knesset in Form der Partei „Israel Beiteinu“ nieder. Obwohl sie mit einer osteuropäischen Wählerschaft identifiziert wird, stimmen natürlich keineswegs nur russischsprachige Israelis für die Partei des Finanzministers Avigdor Lieberman.

Ihre sieben Knesset-Abgeordneten reflektieren das eingangs angesprochene facettenreiche Israel-Bild: der Parteivorsitzende Lieberman wuchs in Moldau, zwei Abgeordnete in der Ukraine und einer in Russland auf. Einer ist ein sephardischer Jude, der im ägyptischen Alexandrien das Licht der Welt erblickte, einer verbrachte seine Kindheit im zentralisraelischen Rehovot auf, während der drusische Abgeordnete dieser Partei aus einer Kleinstadt in Galiläa stammt.

Genauso heterogen gibt sich Israel, wenn es um den Ukraine-Konflikt geht. Der Staat unternimmt eine diplomatische Gratwanderung, um weder Russland zu scharf zu kritisieren, noch die Ukraine zu massiv zu unterstützen. Außenminister Jair Lapid (Jesch Atid) bezog zwar Stellung, aber in relativ gemäßigt; die anderen Minister sollen sich tunlichst nicht zum Thema Wladimir Putin versus Wolodimir Selenskij äußern. Israels politische Experten zeigen eine ähnliche Tendenz auf, die auch eine wenige Tage nach Kriegsausbruch durchgeführte Meinungsumfrage offenlegt: 76 Prozent der Befragten positionierten sich an der Seite der Ukraine, während 10 Prozent pro Russland votierten.

In Israel gibt es Israelis mit wie auch ohne russische Anbindung, für die Putin ein großer Staatsführer ist. Mit Kriegsausbruch versuchten einige Israel-Experten jedweden Kolorits – und ihnen auf den Fersen folgend nicht wenige Privatleute –, zu erklären, wieso Putin sich und sein Land bedroht fühlt und warum es Fälle geben kann, in denen nun einmal auch Waffen sprechen müssen.

Das solidaritätsstiftende Element

Als sich jedoch abzeichnete, dass die militärische Offensive eine humanitäre Katastrophe auslöst, rollte in der israelischen Gesellschaft eine Welle der Solidarität an, von der Unterstützung der staatlichen Hilfsmaßnahmen über Spenden für diverse gemeinnützige Organisationen. Hinzu kamen jedoch auch gänzlich private Initiativen. Dabei forderten beispielsweise Nachbarn dazu auf, sich zusammenzutun, um Sachspenden und Geld konzentriert weiterzuleiten.

Solche Privataufrufe waren von israelischen Bürgern verfasst, deren Nachnamen einen Leser mit Lokalkenntnissen auf eine geografische Reise mitnahmen: Es ließen sich Wurzeln in der Ukraine, in Litauen oder Russland, doch auch in Marokko, aber ebenso im anglosächsischen Raum und im Iran erkennen.

Wirklich ins Auge sprang jedoch ein weiterer interessanter Aspekt: Zwei Drittel der Spenden sollten nach Europa gehen, ein Drittel im Land verbleiben, um – wie in diesen Aufrufen hier und da näher erläutert – „die Not von nachfolgend im Land eintreffenden Juden aus der Ukraine, aus Russland und Belarus zu lindern“.

Warum Israelis zusammenhalten

Und genau das ist der springende Punkt: Während in dem neuen Zeitalter, das sich infolge der russischen Aggression gegen die Ukraine vor unser aller Augen entfaltet, eine neue Weltordnung die nationale Herkunft von Menschen in den Vordergrund rückt, so haben Israels Olim aus Russland und aus der Ukraine neben diesen sie separierenden Element ihrer Identität etwas gemeinsam: Sie sind Israelis, weil sie Juden sind.

Sie können völlig unterschiedliche politische Ansichten vertreten und deshalb auch mächtig aneinandergeraten – keineswegs nur Israelis russischer und ukrainischer Abstammung –, doch am Ende des Tages steht unerschütterlich im Vordergrund, dass sie Juden sind. Juden, so kann ein jeder der 3,3 Millionen Einwanderer berichten, die seit der Gründung des Staates Israel dieses Land zu ihrem Zuhause machten, sind dort draußen in der Welt verletzlich.

Deshalb halten die Israelis zusammen, um den Brüdern und Schwestern zu helfen, die in der Ukraine in Not schweben. Doch schon jetzt wird an die Brüder und Schwestern gedacht, die wegen ihrer jüdischen Identität infolge des drohenden Neuaufbaus des Eisernen Vorhangs in Russland in Schwierigkeiten geraten könnten.

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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