„Der Israeli geht von einer unfairen Realität oder unlogischen Begebenheiten aus.“ Dies sagt Nissim Leon von der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan in einem Interview zum Ausdruck „Frajer“.
Die folgende Situation stellt eine typische Szene im israelischen Alltag dar: Zwei Austauschstudentinnen stehen im Verkehrsbüro in Jerusalem, um ihren ausländischen Führerschein in einen israelischen umschreiben zu lassen. Beide kamen im gleichen Maße vorbereitet, mit allen Dokumenten, die sie für die Umschreibung brauchen. Die erste Studentin wird am Schalter empfangen, und nach weniger als zehn Minuten bekommt sie die Bestätigung der Umschreibung. Die zweite wird am Schalter abgewiesen und wird zum Aufzeigen weiterer Dokumente gefragt, die laut Angaben auf der Webseite gar nicht benötigt werden. Sie bekommt die Bestätigung der Umschreibung vorerst nicht.
Möglicherweise ist die zweite Studentin hier zu dem geworden, was der Durchschnitts-Israeli als „Frajer“ bezeichnet. Doch was bedeutet das? Leon sagt dazu im Interview: „Der Begriff ‚Frajer sein‘ umschreibt das Verhalten eines Menschen, der zum Wohl Anderer, die es nicht verdient haben, auf Dinge verzichtet und ihnen auf seine Kosten den Vortritt lässt.“ Der Soziologieprofessor führt weiter aus: „Ein Frajer ist nichts, das du einfach antriffst.“ Vielmehr werde der Begriff als Legitimation von Verhaltensweisen gebraucht, die unter Umständen die Regeln und Vorschriften brechen. „Der Israeli nimmt sich das Recht, die Regeln oder das Gesetz zu umgehen, sodass er schlussendlich selbst dafür sorgt, fair behandelt zu werden. Wer nach den Regeln geht, wird als Frajer betrachtet.“
Der starke Wille, kein Frajer sein zu wollen, äußert sich in der israelischen Gesellschaft in verschiedenen Verhaltensweisen. Ein typischer Ausdruck davon ist das Vorbeidrängeln an Warteschlangen, aber auch der laute und ausdrucksvolle Gesprächston oder die oftmals unüberschaubare Bürokratie.
Eigenregie für Überlebensinstinkt
Es gibt verschiedene Ideen zum Ursprung des Begriffs „Frajer“. Eine Theorie führt ihn auf das deutsche Wort „Freier“ zurück. Es hatte früher die Bedeutung eines Mannes, der eine Frau umwirbt. Heute wird es jedoch als Ausdruck für einen Mann benutzt, der Kunde einer Prostituierten ist. Der Begriff wurde ins Russische übernommen und hat dort die Bedeutung eines naiven, leichtgläubigen Menschen angenommen. Danach hat der Ausdruck vom Russischen seinen Weg über das Jiddische ins Hebräische gefunden.
In dem Artikel „Das Gericht, die Ethik und Kultur in Israel“ befasst sich Anwalt Arthur Blaer mit der Frage, woher der Wille kommt, „kein Frajer sein zu wollen“. Demnach erklären Soziologen, dass das Trauma des Zweiten Weltkriegs und der Erfahrung des Exils den Willen hervorbrachte, ein Ideal eines neuen Juden zu erschaffen. Dieser sollte stark und unabhängig sein und die im Exil verlorene Selbstsicherheit und den Stolz wieder herstellen.
Auch Leon betont: „Es hat in der Sache der Frajer-Kultur ein starkes jüdisches Element. Das heißt, es kommt von der Kultur der Selbsthilfe der Juden und ihrem Überlebensinstinkt.“ Wenn einer nach den Regeln gehe, werde er nicht überleben. „Aus diesem Grund ist es oftmals wichtig, die Regeln zu umgehen. Dieses Gedankengut ist tief im jüdischen Volk verwurzelt, das in der Vergangenheit eine verfolgte Minderheit war und immer noch in der Erinnerung eines verfolgten Volkes lebt.“
Widerspruch zwischen Kollektiv und Individuum
Als Gegenreaktion auf die vielen Schwierigkeiten, die das jüdische Volk über lange Zeit erdulden musste, sei eine tiefe Fürsorge und ein starker Überlebensinstinkt entstanden. Er zeigt sich heute in individualistischem Verhalten. Wenn es ums Überleben geht, dann rückt das kollektive Wohl in den Hintergrund. Nichtsdestotrotz sind in Israel Werte von Gemeinschaft, Gastfreundschaft und Selbstaufopferung für das Land, zum Beispiel durch den Dienst im Militär, zentral und präsent. Dies stellt einen direkten Widerspruch zu dem Individualismus dar, der durch das „nicht als Frajer ausgehen wollen“ genährt wird. Gefragt, wie diese widersprüchlichen Charaktereigenschaften der Israelis zusammenpassen, antwortet Leon: „Ich glaube nicht, dass ein Widerspruch immer erklärt werden kann. Wir versuchen Dinge ganzheitlich zu sehen, aber manchmal ist es genau der Widerspruch, der die Realität auf eine gewisse Art zusammenbringt.“
Auf die Frage, was der Professor am meisten an der israelischen Gesellschaft schätzt, sagt er: „Die ‚Dugriut‘, die Direktheit der Israelis. Sie und auch der fehlende Anstand der Menschen lassen einen hören, was sie wirklich denken, und das ist authentisch.“ Vielleicht ist es diese Kombination von Direktheit und der Willensstärke der Israelis, die zusammen mit der Wärme und dem hohen Wert von Gemeinschaft die israelische Gesellschaft für europäische Besucher so besonders macht. Ausländer, die einige Zeit in Israel leben, müssen jedenfalls erst lernen, kein „Frajer“ zu sein, um den Alltag in Israel zu meistern. Ein „Nein“ sollte hier nicht allzu ernst genommen werden, denn mit ein wenig Durchhaltevermögen kann sich das „Nein“ in ein „Ja“ verwandeln.
Zwar bringt der Kampf für die Umsetzung eigener Interessen im israelischen Alltag oft viele Herausforderungen und Anstrengungen mit sich. Aber er, hat das Potential, Menschen ein größeres Durchhaltevermögen und mehr Selbstvertrauen zu lehren, sowie die Fähigkeit, mit Druck zurecht zu kommen.
Nach langem Nachhaken und einigem Druck verließ übrigens auch die zweite Studentin mit einem umgeschriebenen Führerschein das Verkehrsbüro. Somit hat sie die besten Voraussetzungen, künftig nicht als „Frajer“ bezeichnet zu werden und ein waschechter Künstler des israelischen Alltags zu werden.
Autorin: Cristina Hügli
Cristina Hügli studiert im Bachelorstudiengang Nahoststudien und Geographie an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan.
4 Antworten
Diesen Ausdruck gibt es auch im Polnischen. Ob mit identischer Bedeutung, vermag ich nicht zu sagen. Für jemanden, der mit deutscher Kultur nach Israel kommt, scheint es besonders schwer, kein Frajer zu sein.
Sehr treffend und kurzweilig geschrieben👍
Gerne mehr davon.
Shalom Gerhard
Sehr spannend, interessant und aufschlussreich!
Ich erinnere mich gerade an zahlreiche Situationen… Danke für den Beitrag!