Immer wieder führen scheinbar winzige Auslöser zu gewaltsamen Ausschreitungen mit tausenden Toten und Verletzten in verschiedenen Teilen der Welt führen. Anlässe können eine Räumungsklage gegen Hausbewohner, die ihre Miete nicht zahlen wollen oder ein jüdischer Politiker auf dem Tempelberg sein, aber auch tatsächliche oder vermeintliche Beleidigungen des islamischen Propheten Mohammed.
Obwohl dieses Phänomen seit Jahrzehnten zu beobachten und mit großen sicherheits- und sozialpolitischen Fragen verbunden ist, mangelt es an brauchbaren Analysen der Hintergründe. In zitierfähigen Quellen werden die Reaktionen auf die genannten Beispiele oft aus einer sehr westlichen Perspektive betrachtet. Analytiker versuchen, sich in die Empörten hineinzuversetzen und fragen: Wie schlimm muss jemand beleidigt oder „in seinen religiösen Gefühlen verletzt“ worden sein, um so zu reagieren?
Diese Fragestellung schließt von vornherein die Empörten als (Mit-)Schuldige aus und lässt einige Besonderheiten außer Acht, die zur Beurteilung wichtig sind. Andere Quellen meinen den Schuldigen in den Muslimen beziehungsweise dem Islam gefunden zu haben. Die Vermutung ist naheliegend, weil die Aggressivität besonders häufig von Muslimen ausgeht. Sie greift aber zu kurz und führt am Ende zu rechtspopulistischen Forderungen.
Vier Beispiele
Anhand der genannten vier Beispiele können Merkmale und Hintergründe aufgezeigt werden, die dabei helfen, solche Ausschreitungen besser einordnen zu können.
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Als Ariel Scharon, damals noch Oppositionspolitiker, am 28. September 2000 den Tempelberg besuchte, folgten darauf viereinhalb Jahre „Intifada“ – Terror und Vergeltungsschläge mit tausenden Toten.
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Die Mohammed-Karikaturen 2005 in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ und mehrere Karikaturen in der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ ab 2011 zogen blutige Ausschreitungen nach sich.
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Proteste gegen den Low-Budget-Film „Innocence of Muslims“ (Die Unschuld der Muslime) kosteten mehr als 30 Menschen das Leben.
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Ein jahrelanger Mietrechtsstreit mündete in einer Räumungsklage, woraufhin tausende Raketen gegen Israel in Stellung gebracht wurden und mehr als 250 Menschen starben.
Es liegt auf der Hand, dass diese „Auslöser“ unmöglich die ganze Ursache für die verheerenden Folgen gewesen sein können. Trotzdem erliegen viele Beobachter dem Irrglauben: Würde man die empfindlichen Gemüter in Ruhe lassen und einfach keine Bilder von Mohammed malen, keine Mietrechtsverstöße ahnden, schon gar keine Siedlungen bauen und keine Juden mehr an den Ort ihres Allerheiligsten lassen, dann wäre Frieden.
Für den Einzelfall mag das stimmen. Ohne das Mohammed-Schmähvideo von 2012 würde der damalige US-amerikanische Botschafter in Libyen, Christopher Stevens, noch leben. Aber die Welt wäre deswegen kein friedlicherer Ort und tieferliegende Gründe für die Aggressionen würden weiterhin bestehen. Es würden sich andere Auslöser finden. Ein Beispiel aus der Kindererziehung kann das verdeutlichen. Wenn ein Kindergartenkind einem anderen Kind, das ihm ein Spielzeug weggenommen hat, die Nase bricht und auch sonst aggressives Verhalten zeigt, werden Pädagogen nach tieferliegenden Gründen für diese Aggression suchen und Maßnahmen ergreifen, um die anderen Kinder zu schützen. Das geschieht völlig unabhängig davon, ob und wann das andere Kind lernen wird, niemandem die Spielsachen wegzunehmen.
Gründe und Merkmale
Nicht zuletzt angesichts der deutschen Geschichte ist unstrittig, was für eine fatale Wirkung immer wiederkehrende Hasspropaganda in Sprache, Schrift und Bild haben kann. Trotzdem klammern die meisten Analysen nach anti-israelischen oder antiwestlichen Ausschreitungen aus, wie massiv in großen Teilen der islamischen Welt Propaganda betrieben wird.
Dabei ist dies einer der wenigen Punkte, über die nicht spekuliert werden müsste, da dieses Phänomen bekannt ist und Wissenschaftler es untersucht haben. Juden, Amerikaner und „Ungläubige“ sind geschaffene Feindbilder. Die Aggression ist nicht die natürliche Folge einer Provokation, sondern wurde in vielen Ländern aktiv als politisches Mittel geschürt.
Frust und Ablenkungsmanöver
Viele der jungen Menschen, die auf den Straßen Autos anzünden und Polizisten angreifen, werden auch in den deutschen Medien als frustrierte, perspektivlose Jugendliche dargestellt. Die Lösung müsse sein, ihnen zu Freiheit und Wohlstand zu verhelfen. So richtig diese Schlussfolgerung sein mag, so falsch sind trotzdem die Schuldzuweisungen. Denn Israel ist genausowenig für den Frust junger Leute in Gaza verantwortlich wie ein dänischer Karikaturist für Perspektivlosigkeit in Syrien und Indonesien.
Was sich bei den Ausschreitungen jeweils entlädt, ist zum großen Teil angestaute Wut über Chancenlosigkeit, Überwachung, Misswirtschaft und Korruption im eigenen Land. Diese Wut wiederum instrumentalisieren Regierungen und/oder islamistische Gruppierungen und lenken sie auf einen Sündenbock. Damit wird vom eigenen Versagen abgelenkt und die Schuld auf einen äußeren Feind projiziert. In vielen islamischen Ländern ist es diese Konzentration auf äußere Feinde, die für (Schein-)Stabilität im Innern sorgt.
Einheit von Religion und Staat
In den meisten der betroffenen Länder ist die islamische Scharia zumindest teilweise Quelle der Gesetzgebung. Staat und Religion sind eng miteinander verflochten. Diese Prägung mag zum Teil erklären, warum bei Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern reflexartig jüdische Einrichtungen in Europa attackiert werden.
Pressezensur
Kaum ein Staat der islamischen Welt kennt freie Presse. In vielen Ländern unterliegen alle Veröffentlichungen einer strengen staatlichen Zensur. So ist zu erklären, dass sich der Zorn der Massen nach den Mohammed-Karikaturen und dem Schmähvideo gegen die Regierungen und staatlichen Vertretungen der jeweiligen Länder richtete. Mit großer Selbstverständlichkeit wurden Botschaften gestürmt und Regierungsvertreter gelyncht, da Muslime sie direkt für die empfundene Beleidigung verantwortlich machten.
Vielen Menschen in der libyschen Hafenstadt Bengasi muss es undenkbar erscheinen, dass eine westliche Regierung sich strafbar machen kann, wenn sie in die Pressefreiheit eingreift. Dieses Unwissen scheint nicht nur das gemeine Volk zu betreffen. Nach Erscheinen der Karikaturen in Dänemark zogen Saudi-Arabien, Libyen, der Iran und Kuwait ihre Botschafter von dort ab.
Planung
Oft geht „spontanen“ Ausschreitungen eine monatelange Planung voraus. Dies war erwiesenermaßen der Fall bei der „Zweiten Intifada“, für die Scharons Besuch auf dem Tempelberg nur ein Vorwand war. Auch der jüngste Gaza-Konflikt folgte weniger abgesagten Wahlen und einem Immobilienstreit als vielmehr einer systematischen Aufrüstung der palästinensischen Terrorgruppen seit 2014 mit dem erklärten Ziel, Israel zu schaden.
Bei den dänischen Mohammed-Karikaturen vergingen Monate zwischen deren Erscheinen im „Jyllands-Posten“ und den Aufständen in islamischen Ländern. In der Zwischenzeit wurden die Bilder gezielt eingesetzt, um damit Stimmung gegen den „islamfeindlichen“ Westen zu machen.
Inszenierung
Oft sind nicht nur die Ausschreitungen geplant und die Menschen gezielt aufgestachelt, sondern ganze Demonstrationszüge werden inszeniert. Im Iran zum Beispiel bekommen Schüler, Studenten und wo möglich Angestellte für inszenierte Demonstrationen frei. Damit niemand zu Hause bleibt, werden die „Demonstranten“ aber in der Schule und an anderen Orten versammelt. Von dort aus gehen sie gemeinsam zur Demonstration. Was so aussieht, als würde das Volk sich empören, ist eigentlich eine Show der Machthaber.
Manipulation und Übertreibung
Um die Gemüter zu erhitzen, werden Geschichten erzählt, die gar nicht stimmen. Allgegenwärtig ist das Bild vom „Kindermörder Israel“ und anderen antisemitischen Gerüchten, die bei Bedarf aufgekocht werden. Wer die dänischen Mohammed-Karikaturen zu sehen bekommen hat, wird bestätigen können, dass sie vergleichsweise harmloser Natur waren.
Die Ausschreitungen begannen erst vier Monate nach der ersten Veröffentlichung. In der Zwischenzeit hatten zwei dänische Imame in Ägypten zusätzlich zu den ursprünglichen Zeichnungen drei weitere Bilder verbreitet, die manipuliert und sehr viel anstößiger waren. Sie eigneten sich sehr viel besser als „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ als die Karikaturen aus „Jyllands-Posten“. Es handelte sich um eine bewusste Manipulation.
Günstige Zeitpunkte
Gegen spontane Zornentladungen spricht auch, dass solche Ausschreitungen häufig im Fastenmonat Ramadan, an Freitagen oder zu anderen „günstigen“ Zeitpunkten stattfinden, zu denen die Stimmung ohnehin aufgeladen ist. Auch der jüngste Gaza-Konflikt begann am Ende des Ramadans. Die Polizei hatte bereits im Vorfeld aus Erfahrung Versammlungen in verschiedenen Teilen der Jerusalemer Altstadt unterbunden – nicht nur für Araber, sondern auch für Juden.
Ähnlich verhielt es sich bei der „Zweiten Intifada“: Obwohl bekannt gemacht worden war, dass Scharon den Tempelberg besuchen würde, waren nur wenige Personen zu friedlichen Protesten erschienen. Der gewünschte „Volksaufstand“ konnte erst losgetreten werden, nachdem die versammelten Männer am folgenden Tag in den Freitagsgebeten dazu angestachelt worden waren.
Gewalt ist die Lösung
Gewalt oder zumindest ihre Androhung ist in den meisten patriarchalisch strukturierten Gesellschaften nach wie vor ein gängiges Mittel beim Umgang mit Konflikten, sei es in der Familie, mit politischer Opposition oder auf der Weltbühne. Auch Terror hat sich als wirksames Mittel erwiesen. Ihm ist es zu verdanken, dass die Karikaturen selbst für Dokumentationszwecke nur schwerlich zu finden sind und der Schmähfilm nur ein einziges Mal öffentlich gezeigt wurde.
Islam
Die Bedeutung einer spezifischen Religion bei solchen Ausschreitungen wird entweder ausgeklammert oder überbewertet. Differenzierte Darstellungen gibt es kaum. Es ist blauäugig, den Islam an sich verantwortlich zu machen. Denn es gibt auch palästinensische Terrorgruppen ohne den religiösen Bezug wie die marxistische „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP).
Gewaltakte eines aufgestachelten Mobs gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, oft Juden, waren in der Geschichte nie ein muslimisches Monopol. Dennoch tut sich heute besonders die islamische Welt mit Gewalt als Antwort auf tatsächliche oder vermeintliche Beleidigungen hervor. Oft geht es dabei um Vergehen, die man selber im großen Stil betreibt, wie etwa das Verunglimpfen von Religionen durch Karikaturen. Hier teilen viele Muslime die Überzeugung, dass der Islam als einzige Religion nicht lächerlich gemacht werden dürfe und noch dazu von den Gläubigen gewaltsam verteidigt werden müsse.
Morde und Verwüstungen rechtfertigen Meinungsmacher auch theologisch. Sowohl gegen die Karikaturisten als auch gegen den Filmemacher wurden Fatwen, also islamische Gerichtsurteile, erlassen, die zu deren Ermordung aufriefen. Dass die islamischen Schriften sich auch friedlich auslegen lassen, steht außer Frage. Überzeugend tut das zum Beispiel der Gymnasiallehrer Hakan Turan auf seinem Blog. Gleichzeitig kann niemand abstreiten, dass aus den Schriften auch Gewaltaufrufe abzuleiten sind und zahllose Muslime sowie islamische Regime dies auch tun. Einer differenzierten Debatte stehen Political Correctness und Islamfeindlichkeit gleichermaßen im Weg.
Verständnis und Rückzug
Gestützt wird die Strategie der „geplanten spontanen Ausschreitungen“ ähnlich wie der Terror von den Reaktionen aus dem Westen. Noch mitten im Raketenhagel wird Israel zur Mäßigung aufgerufen. Internationale Politiker verurteilten die wie auch immer geartete „Provokation“ in einem Atemzug mit den Gewaltakten. Neben allen Bekenntnissen zu Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Israels Recht auf Selbstverteidigung gibt es auch einen stillen Konsens darüber, dass man dem aggressiven Kind eben nicht sein Spielzeug wegnehmen darf.
Das ist leider nicht nur eine gutgemeinte, notwendige Schutzmaßnahme, sondern sorgt vorübergehend für die Ruhe, die notwendig ist, um sich mit dem Problem nicht weiter auseinanderzusetzen. Im Ergebnis findet sich der „aufgeklärte Westen“ mit einer Situation ab, in der ein Karikaturist, der den islamischen Religionsstifter malt, oder ein Lehrer, der in einer Unterrichtseinheit darüber diese Bilder zeigt, nie mehr ihr altes Leben werden führen können.
Von: Carmen Shamsianpur
Eine kürzere Version dieses Artikels finden Sie in der Ausgabe 4/2021 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gern können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.