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Vielschichtiger Streit

Im Ostjerusalemer Stadtviertel Scheich Dscharrah tobt ein Immobilienstreit. Neue Entwicklungen nahm die Hamas im Mai zum Anlass, Raketen auf Jerusalem zu schießen. Über die Hintergründe des Konflikts wurde wenig berichtet. Und wie so oft ist die Wirklichkeit vielschichtiger, als sie auf den ersten Blick scheint.
Heute ist die Bevölkerung im Viertel Scheich Dscharrah überwiegend muslimisch. Israelische Gerichte stellen häufig die Rechtsmäßigkeit der Besitzansprüche jüdischer Organisationen fest.

Am 10. Mai schoss die Hamas sieben Raketen auf Jerusalem. Als Grund gab sie „die geplante Vertreibung von Palästinensern durch das zionistische Gebilde in Scheich Dscharrah“ an. Nicht nur im Westen übernahmen zahlreiche Medien diese Erklärung. Und mehr oder weniger verhalten fragten Reporter aus Deutschland Nahostexperten, ob „diese Provokation Israels denn tatsächlich nötig“ gewesen sei. Hinter dieser Formulierung steht der Vorwurf, der jüdische Staat habe die Absicht, gezielt Palästinenser aus arabischen Vierteln zu vertreiben und wolle diese „judaisieren“. Doch wie so vieles im berühmtesten aller Nahostkonflikte ist die Realität vielschichtiger.

Das Viertel Scheich Dscharrah liegt nördlich des Damaskustores der Jerusalemer Altstadt, eine Viertelstunde Fußweg entfernt. Wie der komplette Ostteil Jerusalems war auch Scheich Dscharrah von der Staatsgründung Israels 1948 bis zur israelischen Eroberung im Sechs-Tage-Krieg 1967 von Jordanien verwaltet beziehungsweise annektiert. Wer heute den Namen des Viertels hört, denkt vor allem an den zivilen Rechtsstreit, der seit Jahren zwischen palästinensischen Bewohnern und jüdischen Hausbesitzern tobt. Er wird innerhalb des israelischen Rechtssystems und unabhängig von der Regierung verhandelt.

In Medien und Sozialen Netzwerken ist von einem Mann zu lesen, der das Haus verlassen musste, in dem er seit sieben Jahrzehnten wohnte und das nun von Juden bewohnt ist. Mehrere Monate kampierte er mit seiner siebenköpfigen Familie unter dem Feigenbaum vor dem Haus, um seinen Protest deutlich zu machen. Er hoffte, in das Haus zurückkehren zu können. Tatsächlich wohnt er nun schon seit einigen Jahren bei Qalandia im Westjordanland.

Kritiker wie die Organisation „Frieden Jetzt“ appellieren an die israelische Regierung. Sie rufen sie dazu auf, einerseits die Durchsetzung der Landansprüche von Juden gegenüber palästinensischen Bewohnern zu stoppen und andererseits Land in Scheich Dscharrah zu konfiszieren, um Palästinensern zu ermöglichen, in ihren Häusern zu bleiben. Ferner fordern sie, dass die Polizei geplante Evakuierungen von Bewohnern nicht unterstützen sollte. Alle Forderungen gelten für Scheich Dscharrah und das benachbarte Viertel Silwan – insgesamt sind es etwa 175 palästinensische Familien, die in den jüdischen Häusern der Viertel leben und somit konkret oder potentiell von einer Evakuierung bedroht sind.

Ein Blick zurück

Wer den Streit, der im vergangenen Frühjahr so viele Gemüter erregte, verstehen will, muss zurück in die Geschichte schauen. Viele Jahrhunderte gab es in dem umstrittenen Viertel kaum Wohnhäuser, dafür aber zwei Gräber, die von Muslimen und Juden besucht wurden: Einerseits war da das Grab des Heilers (arabisch: Dscharrah) Hussam al-Din al-Dscharrahi, das zum Namensgeber des Stadtteils wurde. Er war Arzt des Eroberers Saladin und starb zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Wer muslimische Bewohner jedoch nach dem Grab fragt, bekommt nur ein müdes Kopfschütteln zur Antwort. Stattdessen verweisen sie auf das Grab des jüdischen Hohenpriesters Simeon. Das „Kever Schimon HaZadik“ ist bis heute erhalten, es liegt im Tal und wird von Juden regelmäßig besucht.

„Die Wurzeln der Gebietsstreitigkeit (von Scheich Dscharrah) gehen zurück auf 1876, als der sefardische Gemeinderat und der aschkenasische Generalrat Land um das Grab kauften“, erklärt Dore Gold vom „Jerusalemer Zentrum für Öffentliche Angelegenheiten“ (JCPA). Seitdem ist das Land in jüdischem Besitz. Der Historiker Mosche Jagur ergänzt: „Die Juden siedelten sich im Tal rund um das Simeon-Grab an. Etwa zeitgleich kauften arabisch-muslimische Familien Grundstücke in der Gegend.“ Vor allem die alteingesessenen Jerusalemer Familien Husseini und Naschaschibi hätten sich auf den Hügeln um das Grab angesiedelt. Mit der Zeit entstand eine muslimische Bevölkerungsmehrheit im Viertel. Es kam zu Unruhen zwischen den Bewohnern, sodass die Juden nach und nach ihre Häuser verließen. Als die Jordanier im Mai 1948 den Ostteil der Stadt besetzten, wohnten längst keine Juden mehr im Viertel.

Der Streit wird wesentlich durch die unterschiedliche Gesetzeslage befeuert. Jagur erklärt den Unterschied in der jordanischen und israelischen Gesetzgebung: „Das jordanische Gesetz sieht vor, dass die Ländereien im Besitz der Geflüchteten bleiben, auch wenn diese sich nicht innerhalb der eigenen Staatsgrenzen befinden.“ So kam es, dass Jordanien mit der Zeit zwar die jüdischen Besitzansprüche über die verlassenen Grundstücke und Häuser anerkannte, diese jedoch Palästinensern zur Verfügung stellte.

Auch ein 1970 von Israel verabschiedetes Gesetz ermöglicht Besitzern, die ihr Eigentum in Ostjerusalem im Krieg von 1948 verloren haben, dies beim israelischen Staat zurückzuklagen beziehungsweise entsprechend entschädigt zu werden. Häufig haben einzelne Familien nicht die Nerven, Motivation oder das nötige Geld für einen solchen Rechtsstreit. Dann verkaufen sie ihre Rechte an jüdische Organisationen, die die Klage im Namen der ursprünglichen Besitzer führen. Für Besitzer von Eigentum in Westjerusalem gilt das Gesetz von 1970 jedoch nicht: Wer 1948 sein Land auf israelischem Territorium verließ, hat sein Eigentumsrecht verwirkt – dies ist einem israelischen Gesetz von 1950 festgeschrieben.

Gesetze ursprünglich vor allem auf leerstehende Gebäude bezogen

Kritiker bemängeln, dass viele der heutigen Bewohner von Scheich Dscharrah zu denen gehörten, die 1948 ihr Land in Israel verlassen hatten und nun ohne Eigentum dastehen. Die Verfasser der Gesetze hatten in erster Linie leerstehende Gebäude vor Augen.

Doch in den vergangenen Jahren wurden die Gesetze verstärkt auch auf bewohnte Häuser angewandt. Gemäß einer israelischen Gerichtsentscheidung von 1972 können palästinensische Bewohner als „geschützte Mieter“ in den Gebäuden bleiben, solange sie Miete an die rechtmäßigen Besitzer zahlen. Immer wieder weigern sich jedoch Bewohner, diese Miete zu zahlen. Es kommt zu einem Rechtsstreit und israelische Gerichte entscheiden aufgrund der gültigen Rechtslage, dass die Mieter die Häuser verlassen müssen. Schließlich wenden sich die palästinensischen Mieter an den Obersten Gerichtshof. Dieser prüft den Streit neu.

Jeder Fall wird einzeln verhandelt und neu entschieden. Wenn Palästinenser aufgrund verweigerter Mietzahlungen an die Organisationen aus den Häusern evakuiert werden, ziehen in der Folge häufig Juden ein, die gemeinhin als „Siedler“ bezeichnet werden. Kritiker bemängeln, dass diese Menschen keinen persönlichen Bezug zu den Häusern haben, in denen sie nun wohnen dürfen. Deswegen dem israelischen Staat den Versuch einer „ethnischen Säuberung“ vorzuwerfen, wie es nicht nur Palästinenser immer wieder tun, wirkt dennoch weit hergeholt.

Solange der Status quo der Gesetzeslage in Israel so bleibt, müssen sich Juden und Araber miteinander arrangieren. Vielleicht lässt sich ein Hoffnungsschimmer an den neuen Straßenschildern der Stadtverwaltung ableiten: Vom Grab des „Schimon HaZadik“ geht die Straße „Abu Bakr as-Sadiq“ ab, also auch ein Gerechter, der gemäß der muslimischen Tradition nach einem der vier Kalifen benannt ist. Dies zeigt: Sprachlich liegen Juden und Muslime nicht weit auseinander, vielleicht birgt das Hoffnung auf ein besseres Miteinander. Ob diese ausreicht, um moralische Gerechtigkeit herzustellen, ist ein anderes Thema.

Von: mh

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 4/2021 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gern können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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