Es ist ein historisches Foto, das da am 2. Juni in einem Vorort von Tel Aviv entstand: Drei Politiker schauen freundlich in die Kamera, wirken sehr nahe. Zwei davon, Jair Lapid und Naftali Bennett, sind bekannte Politgesichter in Israel, der andere heißt Mansur Abbas, ist Chef der islamistisch-arabischen Ra’am-Partei und hat gerade unterschrieben, dass er Teil einer israelischen Regierungskoalition werden will. Tatsächlich votieren elf Tage später drei der vier Ra’am-Abgeordneten in der Knesset für die neue „Regierung des Wandels“ und krönen damit ausgerechnet den rechtskonservativen Bennett mit einer Stimme Mehrheit zum Premierminister.
Für das Land ist das historisch. Bislang hatten sich die anti-zionistischen arabischen Parteien einer vollständigen Integration in die israelische Politik stets verweigert und wurden dementsprechend andersherum von vielen jüdischen Politikern auch als geradezu toxisch wahrgenommen. In den ersten Jahrzehnten des Staates waren sogenannte arabische „Satellitenlisten“ der sozialistischen Mapai von David Ben-Gurion an Regierungen beteiligt, doch sie sind mit den heutigen arabisch-israelischen Politikern nicht zu vergleichen. Und als Jitzchak Rabin in den 1990ern auf die Unterstützung nicht-zionistischer Araber setzte, um seine Friedenspolitik hauchdünn durch die Knesset zu bringen, blieb das eine Ausnahme.
Gezielt vorbereitet
Mansur Abbas hat seinen Coup seit Monaten vorbereitet. Ende 2020 begann er sich an den damaligen Noch-Premier Benjamin Netanjahu anzuschmiegen. Beobachter rieben sich die Augen. Die Kontakte zu dem Mann, der einst in Wahlkämpfen mit scharfen Worten vor der arabischen Wählerschaft gewarnt hatte, verpasste ihm den ersten legitimen Anstrich, wie Abbas heute freimütig zugibt.
Nach den Knessetwahlen Ende März wandte sich der 47-Jährige dann direkt an die israelische Öffentlichkeit. Zur „Prime-Time“ trat er am 1. April vor die Kameras und stellte sich auf Hebräisch vor – als „stolzer Araber und Muslim, Bürger des Staates Israel und tapferer Verfechter von Frieden, Partnerschaft und Toleranz“. Alle großen Fernsehkanäle übertrugen live. Es war so etwas wie eine offizielle Offerte für eine Koalitionsbeteiligung. Das Angebot wurde angenommen, nun ist die israelische Regierung von Abbas’ Stimmen abhängig.
Wurzeln in der „Islamischen Bewegung“
Historisch ist das sowieso, doch es wirkt noch erstaunlicher, wenn man weiß, dass Abbas das islamistisch-religiöse Lager der arabischen Gesellschaft vertritt. Der ausgebildete Zahnarzt kommt aus der Islamischen Bewegung, die ihre Wurzeln im „islamischen Erwachen“ der 1970er Jahre hat und eine Islamisierung der Gesellschaft anstrebt. Sie agierte zeitweise aus dem Untergrund gegen den israelischen Staat, ihr Begründer Abdullah Nimr Darwisch saß deswegen sogar im Gefängnis.
Beobachtern beschreiben übereinstimmend, dass die Bewegung bereits in den 1980er Jahren der Gewalt abschwor und sich sich stattdessen erfolgreich in der Lokalpolitik engagierte. Anerkennung erwarb sie sich auch durch ihr soziales Engagement. Mitte der 1990er Jahre spaltete sich die Bewegung in einen radikaleren und einen gemäßigteren Teil. Für letzteren trat 1996 die Ra’am erstmals bei den Wahlen an. In der Folgezeit waren die beiden Seiten wiederholt darum bemüht, erneut zueinander zu finden, jedoch erfolglos.
Die ultra-orthodoxe Methode
Nun, zweieinhalb Jahrzehnte später, hat Abbas die nächste Stufe der Integration seiner Bewegung in den israelischen Staat betreten. Dabei ging er vor wie einst die Ultra-Orthodoxen, bewegte sich während der Phase der Koalitionsverhandlungen als Königsmacher geschickt zwischen den politischen Blöcken und trieb so den Preis für seine Unterstützung in die Höhe, auf die die anderen Parteien für eine Regierungsmehrheit angewiesen sind.
Am Ende unterstützte er diejenigen, die ihm geben konnten, was er für seine Wähler verlangte – zum Beispiel viel Geld im Kampf gegen Kriminalität im arabischen Sektor oder auch eine Legalisierung dreier bislang außerrechtlicher Beduinen-Ortschaften im Negev. Dort hat Abbas den größten Rückhalt. Ideologische Positionen müssen hinter diesem pragmatischen Kurs zurückstehen: Auffällig an Abbas’ Fernsehansprache vor zweieinhalb Monaten war vor allem, dass er das Wort „Palästinenser“ dabei nicht ein einziges Mal in den Mund nahm.
Kritische Stimmen
Doch während in der medialen Wahrnehmung eine positive Interpretation dieses Wandels dominiert, sind auch viele kritische Stimmen zu hören. Abbas rede auf Hebräisch ganz anders als auf Arabisch, heißt es etwa. Zudem enthalte die Charta seiner Bewegung radikale Töne. Darin ist unter anderem zu lesen, Israel sei aus einem „rassistischen, zionistischen Projekt“ heraus geboren, wie die Onlinezeitung „Times of Israel“ feststellte. Premier Bennett selbst nannte Abbas in der Vergangenheit einen „Terror-Unterstützer“, hat das inzwischen zurückgenommen. Doch andere wie etwa die Organisation „Bochrim BeChajm“ (Das Leben wählen), die Terror-Opfer vertritt und den rechten Parteien nahesteht, erhalten den Vorwurf aufrecht.
Auch Mordechai Kedar, Experte für Islamismus am Begin-Sadat-Zentrum für Strategische Studien, warnte jüngst eindringlich, sich „von den schicken Anzügen und Krawatten der Abgeordneten, von ihrem makellosen Hebräisch und ihren akademischen Abschlüssen“ beeindrucken zu lassen: „Die Islamische Bewegung hat ihr ultimatives Ziel nicht aufgegeben – die Zerstörung Israels als jüdischer Staat“.
Von: Sandro Serafin
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