BERLIN (inn) – Bei einer pro-palästinensischen Demonstration ist es am Samstag in Berlin zu massiven Ausschreitungen gekommen. Am Nachmittag versammelten sich tausende Menschen im Bezirk Neukölln und forderten ein „freies Palästina“. Die angemeldete Demonstration sollte vom Hermannplatz bis zum Rathaus Neukölln ziehen. Bereits am Startpunkt standen die Teilnehmer dicht gedrängt beieinander. Abstände, die aufgrund der Corona-Pandemie zur Auflage der Demonstration gehörten, wurden nicht eingehalten. Ebenso trugen viele Teilnehmer keinen Mund-Nasen-Schutz.
An der Versammlung nahmen arabische Familien mit Kinderwagen, Unterstützer der rechtsextremen, türkischen Organisation „Graue Wölfe“ und Imperialismus-kritische Gruppierungen teil. Zum Protest aufgerufen hatte die Gruppe „Samidoun“. Deren erklärte Aufgabe ist es, palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen zu unterstützen. Erst im März stufte die israelische Regierung „Samidoun“ als Terror-Organisation ein. Insgesamt nahmen 3.500 Menschen an der Demonstration teil.
Nach etwa einer halben Stunde beendete die Polizei die Veranstaltung wegen Verstößen gegen die Hygieneauflagen an der Ecke Sonnenallee/Panierstraße. Daraufhin eskalierte die Situation.
Gewaltsame Auseinandersetzungen
Noch als die Polizei die Teilnehmer mit Durchsagen auf Deutsch und Arabisch zum Verlassen der Demonstration aufforderte, schlug die aufgeheizte Stimmung in blanke Gewalt um. Über mehrere Stunden war die Polizei nicht Herr der Lage. Glasflaschen, Pyrotechnik, Baumaterialien und Pflastersteine wurden auf Beamte geworfen. Für die Sicherheitskräfte vor Ort wurde der Einsatz zu einem gefährlichen Spießrutenlauf zwischen aggressiven Randalierern und schaulustigen Anheizern. Die Beamten setzten sich mit Pfefferspray zur Wehr und versuchten, mit gezielten Verhaftungen von Randalieren die Gewalt einzudämmen.
Als die Polizei immer mehr die Kontrolle in der Sonnenallee zurückerlangte, wichen die Randalierer in Nebenstraßen aus und versuchten, dort in Hauseingänge einzudringen. Nur mit Hilfe weiterer hinzugerufener Hundertschaften bekam die Polizei am Abend die Lage unter Kontrolle.
Nach Angaben der Polizei wurden 93 Beamte während des Einsatzes verletzt. Die Polizei nahm insgesamt 59 Personen wegen schweren Landfriedensbruches, gefährlicher Körperverletzung, Angriffen auf Beamte und versuchter Gefangenenbefreiung fest. Insgesamt wurden 150 Personen erkennungsdienstlich erfasst.
Ziel der Angriffe waren auch immer wieder Journalisten. Pressevertreter wurden beschimpft, bedrängt und gezielt mit Pyrotechnik beworfen. Während einer Live-Schalte wurde ein Journalist des Berliner „Tagesspiegel“ angegriffen. Die Reporterin Antonia Yamin vom israelischen Fernsehsender „Kan“ wurde ebenfalls mit einem Knallkörper attackiert. Sie hatte auf Hebräisch von der Demonstration berichtet.
Merke: sei nah dran, aber nicht zu nah. @Muhamad__Abdi und mir gehts gut. #b1505 pic.twitter.com/jxsm2SwPj9
— julius geiler (@glr_berlin) 15. Mai 2021
Offener Judenhass
Dominiert wurde die Demonstration von antisemitischen Sprechchören und Plakaten. Immer wieder riefen Teilnehmer dazu auf, Tel Aviv zu bombardieren. Wie der „Tagesspiegel“ berichtet, wurde in anderen arabischen Slogans der bewaffnete Widerstand gegen Israel legitimiert. Häufig zu hören war auch der Ruf: „Chaibar, Chaibar, ja jahud, Dschaisch Muhammad saja’ud“ (Chaibar, Chaibar, ihr Juden, Mohammeds Heer kehrt zurück). Die Parole bezieht sich auf einen Feldzug Mohammeds im Jahr 628. Der islamischen Geschichtsschreibung zufolge soll der Prophet die von Juden besiedelte Oase Chaibar erobert haben.
Am Montag kündigte die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik vor dem Innenausschuss an, dass die Strafbarkeit einiger Parolen geprüft werde. Die Polizei habe „einzelne israelfeindliche, antisemitische Parolen“ aufgezeichnet und werde diese Aufnahmen nun überprüfen. „Im Zweifel gehen wir vom Anfangsverdacht aus und leiten Strafverfahren ein“. Allerdings würden sich die Parolen oft auf einem „schmalen Grat“ zwischen Strafbarkeit und freier Meinungsäußerung bewegen, erklärte sie.
Bei einer weiteren Demonstration, die bereits am Mittag in Neukölln stattfand, wurden bis auf wenige Verstöße gegen die Hygienerichtlinien keine weiteren Vorfälle gemeldet. An dieser Veranstaltung nahmen rund 300 Menschen teil.
Weitere Demonstrationen in Deutschland, London und Paris
Am Samstag kam es in einer Vielzahl weiterer europäischer Städte zu ähnlichen Protesten. In Köln riefen die Teilnehmer: „Israel Kindermörder“. Wie die Tageszeitung „Die Welt“ berichtet, kam es ebenfalls zu Hitler-Vergleichen. In Frankfurt am Main versammelten sich rund 2.500 Menschen. Zuvor hatte das Verwaltungsgericht das am Freitag beschlossene Demonstrationsverbot aufgehoben. Die Veranstaltung wurde am Abend von der Polizei aufgelöst.
In London versammelten sich ebenfalls tausende Menschen, um gegen Israels Luftangriffe zu demonstrieren. Als Redner trat unter anderen der frühere Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, auf. Er forderte Israel auf, die Besatzung des Westjordanlandes zu beenden und die Blockade des Gazastreifens aufzuheben. Am Sonntag kam es bei einem pro-palästinensischen Autokorso in London zu antisemitischen Parolen. So wurde dazu aufgerufen, Jüdinnen zu vergewaltigen. Premierminister Boris Johnson (Tories) verurteilte den Vorfall scharf: „Es gibt keinen Platz für Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Ich stehe an der Seite der britischen Juden, die einen solch schändlichen Rassismus, wie wir ihn heute gesehen haben, nicht ertragen müssen sollten.“
In Paris gingen trotz eines Verbotes bis zu 3.500 Menschen auf die Straße. Die Polizei versuchte mit Tränengas und Wasserwerfern, die Demonstration zu beenden. Mindestens 44 Menschen wurden festgenommen. Zuvor hatte die Pariser Polizeipräfektur auf Anweisung des Innenministers Gérald Darmanin (La République en Marche) die Demonstration untersagt. Ein Gericht bestätigte später die Entscheidung. In anderen französischen Städten gingen insgesamt 22.000 Menschen am Samstag auf die Straße.
Von: Martin Schlorke