Einmal mehr gehen am heutigen 23. März 2021 Israelis schon an die Wahlurne. Wahlberechtigt sind laut Register des Wahlkomitees von rund neun Millionen Einwohnern 6.578.084 Personen. Das Landesamt für Statistik hingegen veranschlagt nur knapp sechs Millionen Wähler. Fast 600.000 Israelis haben ihren Lebensmittelpunkt im Ausland. Ihnen steht das Wahlrecht zu. Doch um an einer Wahl teilnehmen zu können, müssen sie sich zu diesem Zeitpunkt im Land aufhalten.
Ein Land ohne Briefwahl
Briefwahl steht nur Personen zu, die im Auftrag des Staates im Ausland leben, wie zum Beispiel Botschaftsangehörige. Ansonsten ist nur Soldaten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte am Wahltag selbst zugestanden, mittels doppelter Umschläge abzustimmen, da sie häufig fern ihres Wohnsitzes stationiert sind.
Dass es keine Briefwahl in Israel gibt, bedeutet auch: Es wird in Gefängnissen ebenso wie in Frauenhäusern gewählt. Zudem werden Wahllokale in Krankenhäusern eingerichtet, um Bürgern in stationärer Behandlung eine Stimmabgabe zu ermöglichen. Üblicherweise gehen rund 330.000 Stimmen in Doppelumschlägen ein. Wegen der Pandemie rechnen Beobachter jedoch mit sehr viel mehr Stimmen in dieser Form, deren Auszählung die Bekanntgabe eines amtlichen Wahlergebnisses verzögern wird. Um zügig Hochrechnungen zu präsentieren, werden TV- und Radio-Sender zum ersten Mal in der Geschichte des Landes bezüglich der Hochrechnungen miteinander kooperieren.
Wähler und Gewählte
Die große Mehrheit der Wähler stellt mit 78 Prozent die jüdische Bevölkerung. Die Araber des Landes – Muslime, Christen und Drusen – bringen 17 Prozent Wahlberechtigte ein. Bei 5 Prozent handelt es sich um sogenannte „Andere“, Personen, die nicht-arabisch sind und einer anderen oder keiner Konfession angehören.
Zu einem interessanten Aspekt der israelischen Volksvertreter gewährt die Knesset-Homepage Einblicke: In der ausgehenden 23. Knesset sind 98 Abgeordnete vertreten, die im Land geboren sind, einschließlich 17 Araber. 22 Parlamentarier erblickten das Licht der Welt im Ausland – in Äthiopien, Deutschland, Marokko, Moldawien, Rumänien, Russland/UdSSR, in der Ukraine sowie in den USA.
Das bezeichnet eine enorme Veränderung gegenüber der 1. Knesset, die sich im Februar 1949 konstituierte. 103 der damaligen Abgeordneten waren Einwanderer aus diesen Gebieten: Belgien, Bessarabien, Dänemark, Deutschland, Galizien, Griechenland, Jemen, Kanada, Lettland, Litauen, Österreich, Österreich-Ungarn, Polen, Serbien, Südafrika, Rumänien, Russland, Ukraine, Ungarn und Weißrussland. Gerade einmal 17 Abgeordnete sind als im Land gebürtig verzeichnet, darunter ein Araber.
Wahlbeteiligung und Parteien
Obwohl Israelis durchweg angeben, des Wählens überdrüssig zu sein, stieg die Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren. Im März 2020 lag sie bei 71,5 Prozent. In Israel können Wahlberechtigte zwischen 7 Uhr morgens und 22 Uhr abends Ortszeit in die Wahllokale strömen. Mit Schlangen ist aber erst gegen Abend zu rechnen, was – ob man es glauben mag oder nicht – nicht nur vom Wetter, sondern auch von Sonderangeboten des Geschäftssektors abhängt. Dazu nachfolgend mehr.
Im Allgemeinen gehen Experten davon aus, dass eine hohe Wahlbeteiligung den größeren Parteien zuträglich ist. Israels Regierung kommt ausschließlich durch Koalitionen zustande, denn selten erringt eine Partei überhaupt mehr als ein Viertel der 120 Knesset-Sitze. 2021 müssen sich Israelis zwischen 39 Parteien entscheiden. Laut Wahlumfragen wird die Mehrheit an der 2015 angehobenen Sperrklausel von 3,25 Prozent scheitern.
Vor Wahlen in Israel kommt immer Bewegung in die Parteienlandschaft. Parteien schließen sich zusammen, neue kommen hinzu, während andere schon vor einer Wahl von der Bildfläche verschwinden. Vor einigen Jahren pendelte sich die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien auf zehn bis 15 ein. Bei der heutigen Abstimmung räumen die Prognosen 13 Parteien Chancen auf Einzug ins Parlament ein, wenngleich einigen Parteien laut letzter Prognosen einige Tage vor der Wahl eine Zitterpartie bevorstehen könnte.
Wahlen unter Corona-Bedingungen
Im Vorfeld der Wahlen zur 24. Knesset machte der Ben-Gurion-Flughafen Schlagzeilen. In einem Land, das keine Briefwahl kennt und den Flugverkehr seit Wochen pandemiebedingt stark eingeschränkt hat, beschwerten sich Abertausende im Ausland Gestrandete, an der Wahrnehmung ihres Wahlrechtes gehindert zu werden. Kurz vor Wahltermin ordnete der Oberste Gerichtshof an, den Flughafen unter Einleitung anderer gesundheitsschützender Maßnahmen umgehend zu öffnen. Traditionell setzt zu israelischen Parlamentswahlen ein Reisestrom aus den USA ein. Vor allem Ultra-Orthodoxe mit doppelter Staatsbürgerschaft zieht es dann ins Gelobte Land.
Das jedoch ist nicht die einzige Veränderung, die die Pandemie bringt. Das Wahlkomitee ließ dieses Mal 15.000 anstatt wie üblich 11.000 Wahllokale einrichten. Bei 12.127 handelt es sich um „reguläre“ Wahllokale, von denen mehrere Tausend als barrierefrei ausgewiesen sind. Aufgestockt wurde die Zahl der Wahlmöglichkeiten insbesondere in Senioreneinrichtungen. Für Corona-Infizierte wurden 340 Wahlstätten vorbereitet, für in Quarantäne verweilende Personen 420. Bei 20 Wahllokalen handelt es sich um Durchfahrts-Stationen, die Wählern ein Verbleiben im Auto ermöglichen.
Die Impfkampagne schreitet schnell voran: knapp 5,2 Millionen sind zum ersten und fast 4,6 Millionen zum zweiten Mal geimpft. Doch Israel zählt noch rund 15.000 aktive Corona-Infektionen. Abertausende sind in Quarantäne. Es bedarf somit nicht nur separater Wahlstätten und Schutzmaßnahmen für die Wahlhelfer. Ebenfalls muss dafür gesorgt werden, dass dieser Personenkreis überhaupt zur Wahlurne gelangen kann. Allein die Kosten für separate Verkehrsmittel sind horrend. Das Wahlkomitee setzte dieses Mal ein Budget von 674 Millionen Schekel an (168 Millionen Euro). Mehr als ein Drittel davon ist „Corona-Maßnahmen“ zugedacht. Vor einem Jahr waren es noch 392 Millionen Schekel (knapp 100 Millionen Euro).
Wahl-Panoptikum
Religiöse Juden, die die Schabbat-Ruhe einhalten und deshalb am wöchenlichen Ruhetag keine weiten Ausflüge machen, nutzen den Wahl-Wochentag gerne für Touren. Zusammen mit ihnen macht sich fast das ganze Land auf die Beine, nicht nur in Richtung Wahllokal. Ein Wahltag zieht viele israelische Familien picknickend und grillend in die Natur. Die Strände werden ebenfalls voll sein und Cafés wie Restaurants bereiten sich auf einen Ansturm vor.
Nicht nur wegen des warmen Sonnentages wird erst gegen Abend mit Schlangen vor den Wahllokalen gerechnet. Israelis zieht es nämlich nicht nur ins Grüne und an den Strand. Ein besonderes beliebtes Ziel sind Einkaufszentren.
Zum israelischen Volkssport am Wahltag hat sich die Schnäppchenjagd entwickelt. Geschäftsketten locken: „Heute alles ohne Mehrwertsteuer!“ Einige Konzerne verzeichnen bis zu 250 Prozent und mehr Umsatzsteigerung, so dass ein israelischer Wahltag vor etlichen Jahren zu so etwas wie einem „staatlich geförderten Tag des Konsumenten“ mutierte. In diesem Jahr ist eine solche Aktion nur wegen der Impfungen möglich.
Zumindest außenpolitisch eine neue Ära
Zum Abschluss sei erneut ein Blick auf politische Aspekte geworfen. Wenn diese Zeilen erscheinen, haben Israels Diplomaten im Ausland längst gewählt. Am 10. März begannen mit ihrer Stimmabgabe zunächst Staatsangestellte im neuseeländischen Wellington. Die Erdumrundung endete am darauffolgenden Morgen an der US-Westküste in Los Angeles und San Francisco. Unter den rund 4.000 Abstimmenden waren erstmals auch Vertreter in zwei arabisch-muslimischen Ländern am Persischen Golf, in Dubai und Abu Dhabi, sowie im nordafrikanischen Marokko. Viele Bürger des Landes erfüllt das mit Stolz, veranschaulicht es doch, dass außenpolitisch eine neue Ära angebrochen ist.
Bis einige Tage vor der Wahl, so zeigten Umfragen, belief sich der Anteil der unentschiedenen Wähler auf rund 25 Prozent. Die meisten der letzten Wahlprognosen wenige Tage vor der Wahl deuteten darauf, dass es bei einer Pattsituation der Blöcke bleiben könnte. Innenpolitisch würde also keine neue Ära eingeläutet werden. Dann könnte sich wiederholen, was Israel bereits 2019 erlebte: ein weiterer Wahlgang innerhalb eines Kalenderjahres.
Von: Antje C. Naujoks, Be’er Scheva
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.