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Israel trauert um eine abrupt schwindende Generation

Die Welt trauert. Überall reißt die Corona-Pandemie Menschen aus dem Leben. Für Israel ist besonders schmerzlich, dass überproportional viele Angehörige einer außergewöhnlichen Generation versterben: Scho‘ah-Überlebende sowie Bürger, die den Staat aufbauten.
Arje Even überlebte den Holocaust – und wurde Israels erstes Covid-Todesopfer

Am 19. März 2020 verkündete Premier Benjamin Netanjahu den nationalen Lockdown in Israel. Am darauffolgenden Tag beklagte das Land sein erstes Covid-19-Todesopfer. Innerhalb weniger Tage erlag Arje Even dem Virus aufgrund seiner schweren Vorerkrankungen. Israel nahm nicht nur mit Schrecken wahr, dass Even der besonders gefährdeten Altersgruppe der fast 90-Jährigen angehörte und sich in seinem Seniorenheim die Ansteckungsfälle weiter häuften. Durch das ganze Land hallte es: Das erste israelische Covid-Opfer ist ein Scho‘ah-Überlebender.

Bis Ende Januar sah Israel einen sprunghaften Anstieg der Corona-Todesfälle auf rund 4.800. Im Weltvergleich steht es dennoch relativ gut da, weil es mit 43 Prozent Bevölkerung unter 25 Jahren ein junges Land ist. Statistisch gesehen unterscheidet sich Israel ansonsten wenig vom Rest der Welt, denn auch hier verstarben wegen der Pandemie bislang mehrheitlich Senioren. In Israel machen sie gerade einmal 11 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das entspricht rund einer Million Bürger. Sie sind mehrheitlich jüdisch, da nur 4 Prozent der arabischen Gesellschaft Israels über 65 sind. Ältere Menschen sind weltweit am stärksten durch das Virus gefährdet. In vielen Ländern trifft es eine Generation, deren Lebensweg durch besondere Ereignisse gezeichnet ist. In Japan sind es Menschen, die sich an die Atombombenangriffe von 1945 erinnern. In Deutschland setzt sich die Seniorenrisikogruppe aus Personen zusammen, die Bombenangriffe erlebten und die, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer ihrer Ansprachen ausführte, das Land aufbauten und seinen Wohlstand begründeten.

Scho‘ah-Überlebende besonders gefährdet

Für Israels Gesellschaft kommen andere Faktoren erschwerend zum Tragen. Unter der Altersgruppe, für die Covid-19 eine ernsthafte Bedrohung darstellt, sind viele Scho‘ah-Überlebende. Nicht wenige gehören überdies zu denen, die unter Entbehrungen am Aufbau des jüdischen Staates mitwirkten, wozu auch Fronterfahrung gehört. Es ist eine Generation der Zeugen eines der dunkelsten Kapitel der jüdischen Geschichte ebenso wie eines der glorreichsten Triumphe des jüdischen Volkes. Die Befreiung vom Nazi­Joch ist genauso Teil ihrer Lebensgeschichte wie der Freudentaumel über die Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs zog es hunderttausende jüdische Überlebende, die entwurzelt, mittellos, physisch wie psychisch in schlechtem Zustand waren, weg aus Europa. Ein Leben auf dem blutgetränkten Boden dieses Kontinents war undenkbar. Doch Migration war schwierig, auch weil die Briten die Zuwanderung von Juden ins Mandatsgebiet weiter beschränkten. Trotzdem machten sich Zehntausende auf den Weg. Nach Gründung des Staates Israel schwoll der Strom der eintreffenden Überlebenden massiv an. Zwischen 1945 und 1951 kamen etwa 360.000 Holocaust-Überlebende ins Land. Ende 1951 war jeder vierte Israeli und 1990 noch jeder sechste Bürger des jüdischen Staates Zeitzeuge der NS-Gräuel.

Am 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, dem 27. Januar 2020, zählte Israel 192.000 Scho‘ah-Überlebende; durchweg eine Bevölkerung über 80 Jahre. Im Spätfrühjahr 2020 wurden erstmals statistische Erhebungen zur Pandemie näher analysiert. Sie zeigten, dass rund 7 Prozent der israelischen Covid-19-Todesopfer Holocaust-Überlebende sind, Tendenz steigend. Somit rafft das Virus in Israel mehr als drei Mal so viele Scho‘ah-Überlebende dahin, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Welche Tragik hier mitschwingt, veranschaulicht sowohl der Lebens- und Überlebensweg als auch der Tod von Arje Even. Er schied plötzlich aus dem Leben – so wie seine Familie in Ungarn fast über Nacht ausgelöscht wurde, denn die Züge aus Ungarn trafen monatelang ohne Unterlass in Auschwitz ein. Even emigrierte, wie viele andere Überlebende, 1949 ohne Angehörige nach Israel. „Auch aus dem Leben musste er alleine und ohne uns an seiner Seite scheiden“, sagte einer seiner Söhne gegenüber der israelischen Presse. Noch dramatischer für die Nachfahren war, dass noch nicht einmal alle vier Kinder und 18 Enkel wenigstens im Zuge der Beisetzung Abschied nehmen konnten.

In Israel häufen sich die Geschichten um abrupt aus dem Leben gerissene Scho‘ah-­Überlebende. Diese Menschen sterben nach Monaten von Isolation und seelischen Nöten. Die gegenwärtige Lage, die alle Bürger, unabhängig vom Alter, als belastend empfinden, lässt bei vielen Holocaust-Überlebenden ausgerechnet die Traumata der Vergangenheit akut an die Oberfläche treten. Darauf reagieren längst nicht alle so, wie die 92-jährige Malka Saken: „Ich habe Auschwitz als zwölfjähriges Mädchen überlebt, deshalb weiß ich, alles wird in Ordnung sein.“

Isolation weckt Traumata

Die Pandemiefolgen konfrontieren ältere Menschen häufig mit Anfälligkeit für Depression und Angst sowie Abnahme des funktionellen und kognitiven Vermögens. Viele Überlebende fühlen sich nicht isoliert, sondern eingesperrt, genauso wie damals. „Einige fühlen sich in die Zeit im Ghetto oder Lager zurückversetzt. Mich katapultierte die Ausgangssperre in die Zeit zurück, als ich als kleiner Junge in einem winzigen Dachboden versteckt war“, meinte Schimon Redlich, emeritierter Professor für jüdische Geschichte der Ben-Gurion-Universität in Be‘er Scheva. Dass gerade diese Menschen auf Hilfe in grundlegenden Notwendigkeiten wie Lebensmittel und Medikamente angewiesen sind, weckt Erinnerungen an die Machtlosigkeit gegenüber einstigen Peinigern. Jahre der Mangelernährung, Misshandlungen und Seuchenerkrankungen bringen sie im Hinblick auf die Pandemie weiter ins Hintertreffen, denn sie ringen überproportional mit schweren Folgeschäden und Erkrankungen.

In Pandemiezeiten wird ebenfalls zur Hürde, dass rund ein Viertel der israelischen Scho‘ah-Überlebenden in Armut lebt. Längst nicht alle haben es geschafft, die Klüfte der Jugend aufzuholen wie der 1925 in Güstrow geborene Adolf Abraham Grossmann. Seine Eltern brachten ihn und seinen Bruder mit einem Kindertransport in England in Sicherheit. Als junger Erwachsener schloss er sich der unter britischem Kommando einberufenen Jüdischen Brigade an. Er war bei der Befreiung von Lagern in verschiedenen Ländern Europas dabei, doch nirgendwo entdeckte er Angehörige. 1947 wanderte er ins vorstaatliche Israel ein und wurde Kibbutznik.

Ein „Stolperstein“ in Güstrow erinnert an Adolf-Abraham Grossmann Foto: Michael Gebert, Wikipedia
Ein „Stolperstein“ in Güstrow erinnert an Adolf-Abraham Grossmann

Dank seiner Kampferfahrungen bewahrte er seinen Kibbutz vor einem Angriff ägyptischer Flieger und war ab 1956 maßgeblich am Aufbau der südisraelischen Stadt Kiriat Gat beteiligt. Zusammen mit arabischen Bauarbeitern aus dem Gazastreifen verlegte er die Kanalisation dieser erst zwei Jahre zuvor aus dem Nichts geschaffenen Ortschaft. Sie waren es, die Adolf Abraham einen weiteren Namen gaben, der dann auch im Herbst 2020 in den Nachrufen auf diesen Covid-19-Toten auftauchte: Ali.

Bis Ende Januar zählte Israel mehr als 4.000 jüdische Corona-Opfer. Im Verhältnis zu weltweit mehr als zwei Millionen Toten erscheint das moderat. Doch schon im Sommer 2020, als die Einwanderungsorganisation Jewish Agency erste Zahlen aus den jüdischen Gemeinschaften in aller Welt zusammentrug, wurde klar: Das jüdische Volk insgesamt blickte bereits vor einem halben Jahr auf Tausende Pandemie-Tote. Zahlen sind jedoch nur eine Seite. Israel und dem jüdischen Volk ist nicht nur Adolf-Abraham-Ali, der alleine schon durch seine Vornamen Brücken über unruhige Gewässer schlug, verloren gegangen, sondern eine Generation von Menschen schwindet übergebührlich. Menschen, die zu den letzten gehören, die lebendiges Zeugnis über den Völkermord ablegen können, dessen Verharmlosung und Leugnung längst wieder salonfähig sind.

Von: Antje C. Naujoks, Be’er Scheva

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 1/2021 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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