Am Anfang eines neuen Jahres ist es verständlich, wenn sich Menschen noch im alten wähnen – und sei es nur bei kleinen Missgeschicken wie der Angabe der falschen Jahreszahl. Bei Stellungnahmen von Spitzendiplomaten ist hingegen zu erwarten, dass sie den Wandel mitbedenken. Wenn aber der deutsche Außenminister Heiko Maas im Januar 2021 die Welt wissen lässt, dass es „echten Frieden und wahre Zusammenarbeit mit den Menschen der arabischen Welt ohne eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht geben wird“, befindet sich der SPD-Politiker nicht auf der Höhe der Zeit.
Die Normalisierungsabkommen in Nahost im vergangenen Jahr – und in deren Folge die zahlreichen Vereinbarungen zur Zusammenarbeit – sind nicht zuletzt deshalb möglich geworden, weil die arabischen Länder die „palästinensische Sache“ in ihrer Bedeutung herabgestuft haben. Dass Maas in seiner Rede bei der Jahreskonferenz des israelischen „Instituts für nationale Sicherheitsstudien“ (INSS) am Mittwoch einen derart verstaubten Gedanken auspackt und dann auch noch mit ungespieltem Ernst „frisches Denken“ einfordert, wirkt wie Realsatire.
Routiniert besorgt
Völlig überraschend ist das aber nicht. Der Beitrag des Auswärtigen Amtes zur Politik in Nahost bestand in der Vergangenheit in der Wiederholung altbekannter Denkmuster. Zur Routineübung deutscher Diplomaten gehört es dann auch, den Siedlungsbau und palästinensischen Terror auf eine Stufe zu setzen. In Maas’ Worten hörte sich das am Mittwoch so an: „Wir sehen, wie die Chancen einer Zwei-Staaten-Lösung mit jedem Akt oder Aufruf zur Gewalt schwinden – und auch mit jedem neuen Gebäude, das in den Siedlungen im Westjordanland errichtet wird.“
Zum diplomatischen Repertoire gehört es auch, Schreckgespenste in die Welt zu setzen. Im Jahr 2017 hatte der damalige Außenminister Sigmar Gabriel davor gewarnt, die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt beinhalte die Gefahr, „Öl ins Feuer zu gießen“. Zu einem Flächenbrand kam es bekanntlich nicht; auch die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem ein Jahr später bewirkte solches nicht.
Anstatt daraus zu lernen und zu frischem Denken überzugehen, sind auch dem aktuellen Minister Sorgen und Ängste nicht fremd. Zu ihnen gehört die mögliche „Annexion“ von Teilen des Westjordanlandes, macht sie doch nach Maas‘ Auffassung „jede“ Friedenslösung unmöglich. Die andere Sorge dreht sich um die Zukunft Israels „als jüdischer und demokratischer Staat“, sollte es nicht zu einer „Zwei-Staaten-Lösung“ kommen.
Flaches Geschichtsbild
Man möchte dem Minister zurufen, dass gerade letzteres nicht die Dinge sind, um die sich Deutschland kümmern muss. Der Überlebenswille der Israelis ist groß genug, um die eigene Lage realistisch zu bewerten. Und dass es „Annexions“-Bestrebungen sind, die den Frieden verhindern, ist bei aller Sorge dann doch eine allzu sorglose Behauptung – es ist nicht so, dass andere Ansätze der Vergangenheit zu umfassendem Frieden geführt hätten.
Zum Überlebenswillen des jüdischen Volkes gehört im Übrigen auch der Bau in jener Gegend, die als Giv’at HaMatos, Flugzeughügel, bekannt ist; es geht hier nicht nur um jüdischen Wohnungsbau, sondern aus israelischer Sicht auch um die Einheit Jerusalems. Wenn ein Minister, der nach eigener Aussage „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen ist, sich zu diesem Thema äußert, sollte er doch wenigstens den Namen des Konfliktgegenstands richtig aussprechen können: nicht Dschivat HaMatos, sondern Giv’at HaMatos.
So erweckt er beim Zuhörer den Eindruck, mit der Sache doch nicht derart vertraut zu sein, dass die „Kritik“ an diesem „Siedlungsbau“ (Giv’at HaMatos liegt innerhalb der Stadtgrenzen Jerusalems) Hand und Fuß hat. Diesen Eindruck eines eher oberflächlichen Umgangs mit der Materie untermauert der Minister dann auch noch mit der Behauptung, der Staat Israel habe seinen „Ursprung“ – so die deutsche Verlautbarung der auf Englisch vorgetragenen Stellungnahme – im Holocaust.
Dabei war es ein Ziel dieser Stellungnahme, Deutschland als Vermittler in Nahost ins Spiel zu bringen. Ausdrücklich will Maas dabei auf den Abraham-Abkommen aufbauen, die er als „konstruktiv“ betrachtet. Erkennbar war die Absicht, den Namen Donald Trump nicht mit diesen Abkommen in Verbindung zu bringen. Aber zumindest am Nahost-Team des früheren US-Präsidenten sollte sich Deutschland ein Vorbild nehmen: Das war im vergangenen Jahr nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern legte auch ein tieferes und wertschätzenderes Geschichtsverständnis an den Tag. Im Gegensatz dazu muss sich Deutschland nach Maas‘ Auftritt nicht wundern, wenn es bei den Israelis als Vermittler auch in Zukunft nicht allzu ernst genommen wird.