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Der nächste Anti-Netanjahu

Lange Zeit war Gideon Sa'ar Mitglied in Netanjahus Likud-Partei. Einst förderte der Premier den Tel Aviver sogar. Mit dessen zunehmender Beliebtheit aber verschlechterte sich das Verhältnis. Nun will Sa'ar den „König“ stürzen.
Netanjau-Herausforderer Sa'ar ist fest im rechten Lager verankert (Archivbild)

Eine seiner ersten Herausforderungen überstand Gideon Sa’ar bei keinem geringeren als David Ben-Gurion. Als kleiner Junge lebte er mehrere Jahre mit seiner Familie – der Vater ein aus Argentinien eingewanderter Arzt, die Mutter von zentralasiatisch-jüdischer Abstammung – im Negev-Kibbutz Sde Boker, der Heimat des Staatsgründers. Dieser konfrontierte ihn einmal mit geographischen Fragen. Zunächst überfordert, lernte der junge Gideon die Hauptstädte der Welt auswendig. Ben-Gurion fragte ihn ab. Es war die erste kleine Prüfung seines Lebens, wie Sa’ar sagt. Und er bestand sie.

Ungleich größer ist die Aufgabe, mit der sich Gideon Sa’ar heute, ein halbes Jahrhundert später, konfrontiert sieht. Nach den nächsten Knesset-Wahlen Ende März will der 54-jährige Politiker selbst das werden, was Ben-Gurion einst als erster war: Premierminister Israels. Er wäre der zwölfte nach dem Staatsgründer.

Sa'ars Vater behandelte als Arzt im Kibbutz Sde Boker Staatsgründer Ben-Gurion. Dabei kam auch der kleine Gideon (vorne) in Kontakt mit dem ersten Premierminister Israels.
Sa’ars Vater behandelte als Arzt im Kibbutz Sde Boker Staatsgründer Ben-Gurion. Dabei kam auch der kleine Gideon (vorne) in Kontakt mit dem ersten Premierminister Israels.

Déjà-vu-Erlebnis

Sa’ar will das Potential der unzufriedenen Israelis abschöpfen, die der Führerschaft von Langzeit-Premier Benjamin Netanjahu überdrüssig sind. Viele haben das Gefühl, der Regierungschef stelle seine privaten Angelegenheiten über das Wohl des Staates, und geben ihm nicht zuletzt eine erhebliche Mitschuld an der anhaltenden politischen Blockade und vier Wahlen binnen zwei Jahren. Ihnen will Sa’ar mit seiner im Dezember gegründeten Partei „Neue Hoffnung“ (Tikva Chadascha) eben dies geben: eine Aussicht auf politischen Wandel.

Sa’ar ist ein weiterer Anti-Netanjahu, und er gefällt sich offenbar in der Rolle. Eine Koalition mit dem Likud-Chef hat er ausgeschlossen. Zudem kündigte er als erstes Gesetzesvorhaben eine Begrenzung der Amtszeit des Regierungschefs auf acht Jahre an – Netanjahu ist bereits seit über elf Jahren ununterbrochen im Amt.

Für den politischen Beobachter ist es ein kleines Déjà-vu-Erlebnis, hatte sich doch bei den vergangenen drei Wahlen Benny Gantz als erbitterter Gegner Netanjahus aufgebaut – bis er im April einknickte und doch mit „Bibi“ kooperierte. Nun fällt seine blau-weiße Partei ob der katastrophalen Vorstellung ihres Vorsitzenden auseinander und muss gar um den Wiedereinzug ins Parlament bangen. Es scheint, als versuche Sa’ar in die sich auftuende Lücke vorzustoßen.

Von Netanjahu gefördert

Doch im Mitte-Links-Spektrum, dank dessen Zustimmung Gantz bei den vorvergangenen Wahlen im September 2019 sogar an Netanjahu vorbeiziehen konnte, dürfte er damit nur begrenzt reüssieren. Denn anders als der frühere Armee-Chef ist Sa’ar fest auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums, im rechtskonservativen Lager, verwurzelt. Bereits als Teenager wurde der Tel Aviver (!) in der national gesinnten Techija-Partei aktiv, die sich 1979 als Abspaltung vom Likud Menachem Begins gegründet hatte. Die neue Partei störte sich am Friedensschluss mit Ägypten, in dessen Folge israelische Staatsbürger aus dem Sinai zwangsevakuiert wurden.

Die Partei löste sich Anfang der 90er Jahre auf, Sa’ar fand sich im Likud ein. Ausgerechnet Netanjahu holte ihn 1999 als Kabinettssekretär in sein unmittelbares Umfeld. Auch unter Ariel Scharon arbeitete er in dieser Position, bevor er 2003 erstmals in die Knesset einzog. Als Netanjahu 2009 seine zweite Amtszeit als Premier antrat, machte er Sa’ar zum Bildungsminister. Vier Jahre später wurde er Innenminister.

Beliebt im Likud

In beiden Positionen hinterließ Sa’ar, der vierfacher Vater und in zweiter Ehe mit einer Journalistin verheiratet ist, konservative Duftmarken. So setzte er etwa die staatliche Anerkennung der im Westjordanland liegenden und schon allein deswegen kritisierten Universität Ariel durch. Als Innenminister fuhr er eine dezidiert restriktive Migrationspolitik. In anderen Fragen zeigte er sich indes liberaler, dehnte etwa das Anrecht auf Einwanderung auch auf nicht-jüdische Partner in einer homosexuellen Beziehung aus.

An der Likud-Basis stieg Sa’ar zu einem der beliebtesten Politiker auf. Zweimal holte er bei parteiinternen Vorwahlen für die Knesset-Liste („Primaries“) die meisten Stimmen. Das Verhältnis zu Netanjahu aber verschlechterte sich schon vor langer Zeit. Der Premierminister lasse es nicht zu, dass Konkurrenten neben ihm hochkommen, ist immer wieder von Beobachtern zu hören. Dass Sa’ar einmal Regierungschef würde werden wollen, ist seit Jahren bekannt. Im Dezember 2019 forderte er „Bibi“ offen bei der Likud-Vorsitzendenwahl heraus, unterlag dabei jedoch deutlich. Als Netanjahu dann im Mai eine Regierung bildete, gab er Sa’ar keinen Ministerposten. Im Dezember 2020 verließ der so Ausgebootete die Partei und warf seinem einstigen Chef vor, einen „Personenkult“ zu betreiben.

Netanjahu förderte einst Sa'ars Karriere. Doch das Verhältnis verschlechterte sich bereits vor Jahren. (Archivbild)
Netanjahu förderte einst Sa’ars Karriere. Doch das Verhältnis verschlechterte sich bereits vor Jahren. (Archivbild)

Rechtskonservativ, aber moderat im Ton

Netanjahu und Sa’ar verbindet eine mehr persönliche als politische Abneigung, denn was ihre inhaltlichen Positionierungen anlangt, liegen sie nicht weit auseinander. Tendenziell stehe Sa’ar jedoch weiter rechts als Netanjahu, sagen viele. Vor einem Jahr warf er dem Premierminister „endlose Konzessionen“ gegenüber den Palästinensern vor. Er selbst hält die Zwei-Staaten-Lösung für „eine Illusion“ – was nicht nur rechter, sondern wohl allgemein Mainstream in Israel ist.

Auch Kritik am israelischen Justizsystem – ein zentrales Thema der israelischen Rechten – bedient Sa’ar. Anders als Netanjahu ist er vom Fach: In den 90er Jahren arbeitete der studierte Jurist gut ein Jahr lang als Assistent des Generalstaatsanwaltes. Und als er Innenminister war, kippten Richter wiederholt seine restriktiven Einwanderungsregeln. Sa’ar sieht darin einen „Hyperaktivismus“ der Justiz. Er möchte das Rechtssystem „anpassen, ohne es zu zerstören“. Hinter dieser Formel steckt offenbar der Versuch, sich von den eher wild anmutenden Attacken Netanjahus auf die Gerichtsbarkeit abzugrenzen.

Kann das reichen?

Mit diesem Programm lockt Sa’ar vor allem jene Wähler an, die mit Netanjahus Politik zwar an sich zufrieden sein können, sich jedoch an dessen Auftreten zunehmend stören. Beispielhaft dafür steht Se’ev Elkin, der lange als Netanjahu-nah galt, aber nun zu Sa’ar übergelaufen ist. Netanjahu sei „eine Gefahr“, weil er Entscheidungen auf Grundlage seiner privaten Interessen treffe, sagt der Ex-Minister und meint den laufenden Korruptionsprozess des Premiers. Elkin ist nicht der einzige Likudnik, der sich inzwischen bei Sa’ar eingefunden hat.

Ob das am Ende reicht, ist jedoch fraglich. Wer über die vergangenen zwei Jahre hinweg den Überlebenskünstler und „Magier“ Netanjahu beobachtet hat, dem wird es schwer fallen, an eine Übernahme der Balfour-Straße – des Amtssitzes des Premiers – durch Sa’ar zu glauben. In Umfragen wurde die Hoffnungs-Partei zwar umgehend auf Platz zwei hinter Netanjahu katapultiert. Durch Zusammenschlüsse anderer Parteien kann sich an dieser Reihenfolge aber noch einiges ändern. Klar ist, dass Sa’ar alleine nicht am Likud wird vorbeiziehen können. Eine breite Anti-Netanjahu-Koalition linker, zentristischer und rechter Parteien steht sowohl rechnerisch, als auch ideologisch auf der Kippe, wenn man überhaupt daran glauben mag.

Eines aber hat Sa’ar bereits erreicht: Offensichtlich wegen der Corona-Pandemie hatten die Umfragen Netanjahu lange Zeit eine komfortable Knesset-Mehrheit prognostiziert, die er bei den vergangenen drei Wahlen noch stets verfehlt hatte. Nach Sa’ars Parteigründung wird es für den Premier wieder schwerer, eine Mehrheit mit den ihm ergebenen rechten Parteien zu erreichen. „König Bibi“ wird auch dieses Mal wieder kämpfen müssen. Mit Attacken auf seinen einstigen Gefährten hält er sich bislang aber noch zurück.

Von: Sandro Serafin

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