Vor einigen Jahren titelte unsere Lokalzeitung etwas ironisch: Guten Rutsch! Der Bericht widmete sich den winterlich verschneiten Straßenverhältnissen in und um Gera. Der Januar war erst wenige Tage alt, wir hatten ihn alle noch im Ohr, diesen alten Neujahrsgruß. Ob es regnet oder schneit, oder ob die Sonne scheint – an den Tagen vor Silvester wünschen wir uns einen guten Rutsch. Wir denken dabei an ein fröhliches Hinübergleiten vom alten ins neue Jahr. Oder eben augenzwinkernd und etwas spöttisch an das Ausrutschen bei Glatteis.
Den wenigsten von uns wird bewusst sein, dass wir damit Jahr für Jahr einer jüdischen Tradition folgen. Im Jiddischen, der Sprache der osteuropäischen Juden, die sich vor rund tausend Jahren aus einer Mischung von Hebräisch, Slawisch und Mittelhochdeutsch entwickelt hat, hatte der Gruß eine andere, ganz einfache und verständliche Bedeutung.
„Rutsch“ stammt von hebräisch „Rosch“ und bedeutet Kopf oder Anfang. „Rosch HaSchana“ ist der jüdische Neujahrstag, der Anfang eines neuen Jahres. Und so wie man sich eben manchmal auch einfach „Tag“ statt „guten Tag“ sagt, fiel das umständliche HaSchana weg, das kurze Rosch blieb. Ein „guter Rosch“ war also der Wunsch zu einem guten, gesegneten Anfang des neuen Jahres.
Der jüdische und der christliche Neujahrstag fallen nicht auf das gleiche Datum. Dass wir uns dennoch einen guten Rutsch wünschen, zeigt, wie lebendig der sprachliche Austausch einmal gewesen sein muss. Das Judentum war Teil unserer Kultur. Juden waren unsere Nachbarn.
Jüdische Sprachreste im Deutschen
Andere Beispiele gefällig? Dass wir uns einen „guten Rutsch“ wünschen, ist nämlich nur einer von vielen jiddischen Ausdrücken in unserer Sprache. Die meisten sind uns gar nicht bewusst. So kommt der Ausdruck „Ganove“ vom Begriff „ganav“ und bedeutet Dieb. Oder „Schmiere stehen“ stammt von „Schomer“, dem Wächter, beziehungsweise von „Schmira“, Wache. Oder eine „Ische“, die manchmal etwas abfällig gebrauchte Bezeichnung für Freundin, geht auf Hebräisch „Ischah“ zurück und heißt ganz einfach „Frau“. Wenn man diese Begriffe anschaut, fragt man sich schon: Ob da vielleicht das ein oder andere Vorurteil mitschwingt?
Wie dem auch sei. Eins wird deutlich: Bewusst oder unbewusst, es gibt jüdische Sprachreste im Deutschen. Und Vorurteil hin oder her, ich freue mich darüber.
Ideologen haben zu allen Zeiten versucht, die Sprache zu diktieren. Die Nazis waren da keine Ausnahme. Sie haben gründlich gearbeitet. Es ist tragisch, dass wir bis heute in Deutschland nur wenigen jüdischen Menschen begegnen können. Jiddisch oder Hebräisch gehören nicht mehr zu unserem Alltag. Wieviel Kultur, Bildung, Wissenschaft, ja schlicht: wieviele Menschen, sind durch die Nazis zerstört worden. Nur wenige Überlebende sind zurückgekehrt. Und doch! Die Sprache hat ihre jüdischen Wurzeln bewahrt.
Wurzeln im Judentum
Das viel beschworene „christliche Abendland“ ist eben auch ein jüdisch-christliches Abendland. Jesus Christus, der ja selber Jude war, hat es einmal sehr deutlich ausgedrückt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Johannes 4,22). Der christliche Glaube, die abendländische Kultur und viele humanitäre Errungenschaften haben im Judentum ihre Wurzeln. Dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, ein Individuum mit eigener Würde und Verantwortung, erfahren wir weltgeschichtlich der erste Mal aus der Tora, den fünf Büchern Mose. Ohne diesen alten Text gäbe es keinen Schutz der Menschenwürde, keine Menschenrechte, keine UNO und kein Rotes Kreuz. Unsere Sprache und unsere Kultur sind jüdischer, als wir denken. Gott sei Dank.
Mindestens einmal im Jahr erinnern wir uns an diese Wurzel. Unbewusst – oder jetzt ein bisschen bewusster. Auch wenn die jüdische Herkunft in diesem Fall nicht hundertprozentig erwiesen ist, werde ich fleißig weiter wünschen: Guten Rutsch!
Aus: Shalom, Herr Levi. Jüdisches Leben heute; von Andreas Martz und Uwe Heimowski