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„Streitfall Antisemitismus“ verfehlt das Thema

Das neue Buch „Streitfall Antisemitismus“ hält nicht, was der Titel verspricht. Vielmehr verfällt ein Großteil der Autoren in Deutungsmuster, die von Antisemiten bekannt sind. Eine Rezension von Marc Neugröschel
Der in der Gesellschaft verwurzelte Judenhass nimmt in dem Buch nur geringen Raum ein – ebenso wie eine sachliche Auseinandersetzung

„Streitfall Antisemitismus“ heißt ein neuer Sammelband des Historikers Wolfgang Benz. Anders als man denken könnte, geht es in dem Buch hauptsächlich nicht um Judenhass in der Gesellschaft, sondern vielmehr darum, den Gebrauch des Antisemitismusbegriffes zu kritisieren. Benz und die meisten seiner 14 Co-Autoren vertreten die These, dass der Begriff von der israelischen Regierung und anderen Akteuren instrumentalisiert werde, um unliebsame politische Positionen zu disqualifizieren.

Bereits im Vorwort heißt es, dass eine „extensive Auslegung“ des Antisemitismusbegriffes „ein Anliegen des zuständigen israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten“ sei. Der Politikwissenschaftler Michael Kohlstruck vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung meint eine „Einschränkung der freien Rede“ erkennen zu können. Und der Journalist Daniel Bax sieht in Vorgängen um das Jüdische Museum Berlin „den langen Arm“ von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu.

Indem das Buch die Idee verbreitet, dass es in Deutschland politisch motivierte und von der israelische Regierung lancierte Sprech- und Denkverbote gäbe, folgt es letztendlich aber selbst einem klassischen verschwörungstheoretischen antisemitischen Denkmuster: Dieses geht davon aus, dass Juden Diskurs, Medien und Meinung in der Gesellschaft fremdbestimmten und kraft dieser Macht politische Positionen tabuisierten.

Auf den Spuren des antisemitischen Historikers von Treitschke

Bereits 1879 schrieb der deutsche antisemitische Historiker Heinrich von Treitschke – im selben Aufsatz übrigens, in dem er den berüchtigten Satz „Die Juden sind unser Unglück“ formulierte: „Wer sich unterstand über irgendeine unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters gerecht und maßvoll zu reden, ward sofort fast von der gesamten Presse als Barbar und Religionsverfolger gebrandmarkt“. Treitschke kritisierte also, dass die Bezichtigung antijüdischer „Religionsverfolgung“ zu Unrecht ins Feld geführt werde, um legitime Kritik an Juden zu disqualifizieren.

In gleicher Weise behaupten Benz und viele (nicht alle!) seiner Co-Autoren, dass der Antisemitismusbegriff heute dazu missbraucht werde, politisch unliebsame Meinungen, die in Wirklichkeit gar nicht judenfeindlich seien, zu diskreditieren. Das läuft letztendlich auf die Forderung hinaus, Antisemitismus nicht als solchen zu benennen. So befindet die Historikerin Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, dass etwas falsch laufe, wenn „Schüler, die auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit ‚Du Jude‘ beschimpfen, als Antisemiten tituliert werden“.

Auch Wetzels Kollege, Michael Kohlstruck, sieht in der internationalen Berichterstattung über den Fall eines Schülers, der an seiner Berliner Schule antisemitisch gemobbt wurde, eine kontraproduktive „Skandalisierung“. Der Fall hätte seiner Meinung nach lieber schulintern als ein Mobbing-Fall von vielen behandelt und nicht als Beispiel für Judenfeindlichkeit in die Öffentlichkeit getragen werden sollen.

Zweifel an antisemitischer Haltung der Boykottbewegung BDS

Der Historiker Cil Brecher wiederum bezeichnet die Verhaftung von SS-Funktionär Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst Mossad im Frühjahr 1960 als „unrechtmäßigen Akt der Entführung“. Weiterhin vertreten Benz und einige weitere Autoren in dem Band die Auffassung, dass die Einstufung der anti-israelischen Boykottbewegung BDS durch den deutschen Bundestag als antisemitisch das ungerechtfertigte Ergebnis politischer Manipulationen sei.

BDS steht für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“. Diese palästinensische Bewegung fordert nicht nur einen weltweiten Boykott israelischer Waren, sondern auch israelischer Universitäten, Akademiker und Künstler unabhängig von deren politischer Orientierung. Damit möchte die BDS-Bewegung erklärterweise einer Normalisierung der Beziehung zwischen Israel und anderen Staaten entgegenwirken und den jüdischen Staat aus der Staatengemeinschaft drängen. BDS-Gründer Omar Barghuti erklärte explizit, dass er die Existenz eines jüdischen Staates ablehne.

Dies wird von den Autoren allerdings in Abrede gestellt. Wolfgang Benz behauptet, dass die BDS-Bewegung weder judenfeindlich sei noch die Existenz des Staates Israel bedrohe. Basierend auf dieser verfremdeten Wahrnehmung stellt Benz dann die Frage, ob es nicht Ziel des deutschen Bundestages gewesen sei, „jegliche Kritik an israelischer Politik zu ersticken,“ als er am 17. Mai 2019 mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit einen Beschluss fasste, wonach die BDS-Bewegung als antisemitisch einzustufen sei.

Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik geht sogar so weit, die Verurteilung von BDS als antisemitisch als einen moralischen Verstoß gegen die Werte der Demokratie zu bezeichnen, mit der Juden Hitler im Nachhinein recht geben würden. Auch Kritik am Jüdischen Museum Berlin, das BDS-nahe Akteure in Schutz nahm oder ihnen sogar ein Forum bot, ist für Benz Ausdruck einer „politischen Kampagne“, mit der das Museum auf Linie habe gebracht werden sollen.

Politische Pamphlete statt Wissenschaft

Obgleich sich das Buch als Sammlung wissenschaftlicher Abhandlungen geriert, handelt es sich bei den meisten Beiträgen um politische Pamphlete, die eine aus ihrer Sicht überzogene Debatte über Antisemitismus kritisieren und sie als Mittel der politischen Manipulation beschreiben. Dabei bedienen sich viele Beiträge selbst einer manipulativen Argumentationsweise. Diese baut darauf auf, Menschen zu verleumden, die auf Antisemitismus in der Gesellschaft hinweisen, anstatt sich inhaltlich mit ihren Argumenten auseinander zu setzen.

Der FDP-Landtagsabgeordnete Lorenz Deutsch, der die Einladung des kamerunischen BDS-Aktivisten Achille Mbembe zum nordrhein-westfälischen Kulturfestival Ruhrtriennale kritisierte, wird zum „Provinzpolitiker“ degradiert; der bekannte Geschichtswissenschaftler Michael Wolffsohn habe sich „von der seriösen Forschung entfernt“; die renommierte Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel sei gar keine Antisemitismusforscherin; FAZ-Kulturredakteur Thomas Thiel inszeniere in seiner Zeitung „einen stalinistischen Schauprozess“; der „Welt“-Journalist Alan Posener und die Berliner Wochenzeitung Jungle World werden in einem Atemzug mit „rechten Propagandablogs“ genannt.

Sachliche Beiträge in der Minderheit

Kurz gesagt, all jenen, die Antisemitismus für ein reales und virulentes Phänomen und nicht für einen politischen Kampfbegriff halten, wird einfach die Seriosität abgesprochen. Dies entspricht exakt dem Argumentationsmuster, nach dem Verschwörungstheoretiker ihre Positionen gegen Kritik abschirmen. Eine Ausnahme bildet hier der Beitrag des Anglisten, Historikers und Politikwissenschaftler Gert Krell. Auch er vertritt zwar die Meinung, dass der kamerunische Autor und BDS-Aktivist Achille Mbembe zu Unrecht des Antisemitismus bezichtigt werde, setzt sich aber transparent mit den Argumenten der Gegenseite auseinander, bevor er seine eigenen Schlussfolgerungen dagegen stellt. Damit erfüllt er eine Grundvoraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens, um die sich die meisten anderen Autoren umso weniger zu scheren scheinen, je lauter sie die Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen.

Ebenfalls ausgenommen werden muss der Beitrag von Dervis Hirarci, dem Antidiskriminierungsbeauftragten der Berliner Bildungsverwaltung. Hirarci warnt vor fremdenfeindlichen Deutungsmustern, die dazu neigen, Muslimen und Migranten die Alleinschuld für Antisemitismus in Deutschland zu geben. Gleichzeitig benennt er aber auch das Problem des Antisemitismus in migrantisch-muslimisch geprägten Milieus, ohne es zu marginalisieren. Im Unterschied zu Benz, der „israelbezogenen Antisemitismus“ für einen „Nebenschauplatz der Judenfeindschaft“ hält, erkennt Hiraci an, dass „der israelbezogene Antisemitismus (…) die häufigste Erscheinungs- und Ausdrucksform gegenwärtiger Judenfeindschaft“ ist. Eine Beobachtung, die von der aktuellen empirischen Forschung zu dem Thema gedeckt wird.

Auch der Beitrag von Peter Widman bleibt in seiner Beschreibung der Debatte über die Grenzen zwischen Antisemitismus und Israelkritik sachlich. Von diesen drei Beiträgen abgesehen, ist das Buch vom ideologischen Eifer gezeichnet, Antisemitismuskritik zum Mittel der Zensur zu verklären. Die Autoren beklagen eine Tabuisierung durch Antisemitismuskritik, wollen letztendlich aber selber die Antisemitismuskritik tabuisieren.

Foto: Metropol Verlag

Wolfgang Benz (Hrsg.): „Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen“, Metropol, 328 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-86331-532-0

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