Die Salah-ad-Din-Straße, nur wenige Gehminuten nordöstlich vom Damaskustor gelegen, gilt vielen Arabern als Stadtzentrum außerhalb der Jerusalemer Altstadt. Auf halber Höhe betritt ein schlanker Mann mit weißem Hemd ein großes grünes Eisentor, das über Treppenstufen hinauf zu einem muslimischen Friedhof führt. Raja’y Sanduqa kommt zweimal am Tag, um die traditionelle Ramadan-Kanone zu entzünden.
„Die Tradition, den Beginn des Fastens am Morgen sowie den Beginn des abendlichen Fastenbrechens in Jerusalem mit einer Kanone zu markieren, ist schon 120 Jahre alt, sie stammt noch aus dem Osmanischen Reich. Seit damals ist meine Familie für diese Zeremonie zuständig“, erzählt der Mittfünfziger.
Die Kanone ist auf dem höchsten Platz in Nähe der Altstadt platziert. „Früher“, so erklärt Sanduqa, „lebten die meisten Muslime in der Altstadt. Wenn die Kanone ertönte, wussten die Bewohner am Morgen, dass es soweit sei, ihre Mahlzeit einzunehmen. Abends wussten sie, dass sie das Fasten brechen dürfen.“
Immer wieder begrüßt Sanduqa jüdische Besucher, die ihm beim Anzünden der Kanone zuschauen. Regelmäßig kommt auch der Jerusalemer Bürgermeister zu Besuch, um einen guten Ramadan zu wünschen und die Kanone zu entzünden. In diesem Jahr machen sich nur einzelne Besucher zum Friedhof auf. Aufgrund der strengen Bestimmungen wegen des Coronavirus ist der allabendliche Ramadan-Trubel, der die Gegend sonst prägt, ohnehin stark eingeschränkt.
Fastentag abkürzen?
Die Zeremonie dauert nicht lange. Nach der Detonation schaut sich Sanduqa die Kanone an. „Früher haben wir echtes Schießpulver verwendet. Heute nutzen wir einen einfachen Zünder. Der Effekt ist derselbe.“ Er räumt den Müll auf und geht zurück zu seinem Auto. Das Fasten will er mit seiner Familie brechen. Er geht vorbei an Männern aus der Nachbarschaft, die ihm freundlich zunicken. Sie sitzen draußen und löschen ihren Durst nach einem heißen Fastentag. „Manche Stadtbewohner“, sagt er zwinkernd, „sprechen mich an und fragen, ob ich die Kanone nicht mal früher anzünden könnte. Um den langen Fastentag abzukürzen.“
Es ist still in dem ansonsten so belebten Viertel. Einzelne Verkäufer haben ihre Läden geöffnet. Nur wenige Straßen weiter, im Stadtviertel Musrara, an der Straßenbahnhaltestelle „Damaskustor“, trifft sich zum Fastenbrechen Ahmad mit seinen Cousins vor ihrem Laden. Sie betreiben die Bäckerei des Großvaters. Die Ramadan-Kanone haben auch sie gehört und als Zeichen genommen, gemeinsam das Fasten zu brechen.
„Wie immer arbeiten wir auch in diesen Wochen Tag und Nacht. Aber schau dich um“, weist Ahmed mit der Hand auf die verhältnismäßig leeren Straßen. „Viel ist nicht los in diesen Tagen. Ich bin froh, wenn alles wieder normal wird.“ Er nimmt einen Schluck von dem im Ramadan so beliebten braunen Tamarinden-Getränk. „Wenn wir Glück haben, kommen nach Ende des Ramadans nächste Woche auch wieder mehr Menschen in die Stadt.“
Von: mh