WEIMAR (inn) – Zwei junge Frauen kommen gut gelaunt die Treppe im Weimarer Jugend- und Kulturzentrum „Mon Ami“ herauf, dabei singen sie zweistimmig. Sie gehören mit elf weiteren Sängerinnen und zwei jungen Männern zum „Caravan Choir“. Wenig später nehmen sie für die Generalprobe ihre Plätze auf der Bühne ein. Der Soundcheck der Solomikrofone zeigt die Vielfalt des Ensembles: Einer singt eine arabische Weise und ist dabei als Muttersprachler zu erkennen. Andere testen ihre Mikrofone mit englischen Stücken oder einem hebräischen Schabbat-Lied. Dazwischen ist auch „Hänschen klein“ zu hören. Denn dem Ensemble gehören sowohl Israelis als auch Deutsche an.
Das „Caravan Orchestra“ tritt seit 2017 beim „Yiddish Summer Weimar“ auf. In diesem Jahr ist erstmals ein Chor dabei. Die meisten Mitwirkenden studieren Musik in Haifa oder Weimar, die beiden Hochschulen arbeiten zusammen. Unter den Israelis sind Juden, Muslime und Christen. Mohammed aus Haifa spielt im Orchester verschiedene Trommeln. Die Begeisterung ist ihm, wie den meisten jungen Musikern, deutlich anzumerken. Bereits im vergangenen Jahr war er bei dem Projekt dabei, damals studierte er noch an der Musikhochschule in Haifa. Mittlerweile ist der junge Muslim an die Hebräische Universität Jerusalem gewechselt, dort fühlt er sich wohl. „Musik überwindet Grenzen“, sagt er nach der Probe im Gespräch mit Israelnetz.
Auch die jüdischen Studenten Sebastian, der E-Gitarre spielt, und Assaf, ein Geigenspieler, gehören dieses Jahr zum Orchester. Die Musiker haben zum Auftakt eine Woche miteinander in Haifa verbracht, das Repertoire einstudiert und sich gegenseitig kennengelernt. Dann flogen sie nach Deutschland. An der Musikhochschule in Haifa hatte ein Aushang für das Projekt geworben. Das gemeinsame Musizieren in diesem besonderen Rahmen macht beiden Israelis Freude.
Stücke aus der Mandatszeit und neue Kompositionen
Der Yiddish Summer steht in diesem Jahr unter dem Thema: „The Weimar Republic of Yiddishland“. Und so stammen einige Stücke des „Caravan Orchestra & Choir“ aus der britischen Mandatszeit, das soll eine Parallele zur Weimarer Republik schaffen. Doch es gibt auch neue Kompositionen. Apart ist die Mischung aus orientalischen und europäischen Elementen. Nicht alle Tage bekommen Konzertbesucher jiddische Lieder zu hören, die mit Instrumenten aus dem nahöstlichen Raum begleitet werden.
Vier Dirigenten haben ihre Vorschläge ins Konzertprogramm eingebracht. Schon in der Probe an diesem Samstagnachmittag zeigt sich die Klasse des Projektensembles. Die jungen Musiker im Alter zwischen 17 und 26 Jahren stellen sich auf den jeweiligen Stil desjenigen ein, der gerade dran ist mit Dirigieren. Sie schalten schnell um. Mitunter stehen auch zwei Dirigenten gleichzeitig auf der Bühne – für den Chor und für das Orchester. Wer gerade nicht dirigiert, nimmt seinen Platz im Ensemble ein. Die Wechsel funktionieren reibungslos.
Sarah Myerson aus New York dirigiert drei jiddische Stücke. Nach der Probe erzählt sie, dass die Melodien von zwei der Lieder aus der Sammlung von Moishe Beregowski (1892–1961) stammen. Die Texte hätten aber heutige Autoren geschrieben. Das dritte Lied hat sie selbst verfasst. Darin nimmt sie Bezug auf eine Episode aus der Zeit des jüdischen Aufstandes gegen die Römer: Rabbi Schimon Bar Jochai versteckte sich mit seinem Sohn zwölf Jahre in einer Höhle. Wie es seiner Frau in der Zwischenzeit erging, erzählt der Talmud hingegen nicht. Deshalb heißt das Stück „Oy vey Shimen“: Die Frau beklagt, dass er nicht nach Hause gekommen und sie der Willkür der Römer überlassen habe, die nach ihm suchten.
Ein Lied aus Wilna mit einer beduinischen Melodie
Ungewöhnlich ist die Geschichte des hebräischen Stückes „Yad Anuga“: Der Text wurde 1906 in Wilna geschrieben. In den 1920er Jahren erhielt er im Mandatsgebiet Palästina eine beduinische Melodie. 1930 wiederum wurde das Lied in Berlin vom damaligen jüdischen Label „Semer“ aufgenommen. Im Programm der vielfältigen Musiker darf ein solches Stück nicht fehlen. Aber auch das arabische Wiegenlied „Yaale“ hat Myerson für das Konzert arrangiert.
Ein weiterer Dirigent ist Jeryes Murkus Ballon. Er stammt aus einer marxistisch geprägten christlichen Familie in Nazareth. Im Orchester spielt er ein orientalisches Saiteninstrument, Bouzouk. Ihm gefällt die Verknüpfung von orientalischen und westlichen Elementen bei dem Projekt. Auch palästinensische Musik gehöre zu seinem Repertoire, sagt er – und die habe keine Grenzen.
Im Konzert dirigiert der Araber das erste Stück: einen schwungvollen Hochzeitstanz der Rahbani-Brüder, eines libanesischen Duos. Es ist ein gelungener Auftakt. Die Musiker strahlen Freude aus. Dass sie zwei Wochen zuvor das erste Mal gemeinsam geprobt haben, ist nicht bemerkbar. Das Publikum lässt sich sofort mitreißen.
Direkt danach wird es ruhiger, mit einem judäo-spanischen Lied. Diese auch als Ladino bekannte Sprache entstand auf ähnliche Weise wie Jiddisch, nur nicht aus dem Deutschen, sondern aus dem Spanischen des Mittelalters. Nach der Vertreibung aus Spanien 1492 brachten Juden sie unter anderem ins griechische Saloniki. Als ihre Nachkommen von dort ins Konzentrationslager deportiert wurden, sangen sie das Lied „Arvoles“ (Bäume). Nun führen die jungen Musiker das Stück a capella in Weimar auf, dirigiert von Myerson. Sie hat angemerkt, dass es die einzige Sprache des Repertoires sei, die keiner der Mitwirkenden ohne Übersetzung verstehen könne.
Verknüpfung von europäischen und orientalischen Elementen
Luna Abu Nassar aus Nazareth, die mittlerweile in Tel Aviv-Jaffa lebt, beteiligt sich ebenfalls am Dirigat. Wie Myerson konzentriert sie sich auf den Gesang. Sie hat arabische Stücke unterschiedlicher Couleur ins Programm eingebracht. Ein Lied, „Ya Rayah“, tragen die Sänger im algerischen Dialekt vor. Der Titel heißt übersetzt „Oh Reisender“. Dieser wird gefragt, wohin er reist und wie viele unwissende Menschen er unterwegs trifft. Das typisch orientalische Stück erhält in Abu Nassars Fassung eine besondere Note durch ein Trompetensolo.
Diese Mischung von Elementen aus Europa und dem Nahen Osten oder Nordafrika zieht sich durch das Konzert und verleiht ihm – ebenso wie die Zusammensetzung des Ensembles – einen besonderen Charme. So spielt der vierte Dirigent, Ilya Shneyveys, zwischendurch Akkordeon oder Ukulele, wenn sein Kollege Murkus Ballon bei arabischen Stücken die Leitung übernimmt. Dieser wiederum bringt seine Bouzouk bei jiddischen Liedern und Klezmer-Stücken mit ein. Zudem spielt ein Musiker das orientalische Saiteninstrument Oud, ein weiterer brilliert mit der Ney-Flöte. Neben ihm sitzt eine deutsche Schülerin, die mit verschiedenen Blockflöten musiziert.
In der letzten Reihe wechseln Trommler wie Mohammed blitzschnell ihre Instrumente. Sie bereichern osteuropäische Weisen mit orientalischen Rhythmen. Doch auch ein Schlagzeug und Sebastians elektrische Gitarre kommen zum Einsatz. Klassische Streicher und Bläser sowie eine Akustikgitarre und ein Flügel runden das Instrumentarium ab. So erzeugen nicht nur die scheinbar gegensätzlichen Stile, sondern auch die klassischen und modernen Instrumente einen ungewöhnlichen Klang.
Das jiddische Lied „Ver“ stellt die Frage: „Wer wird Löwe und Lamm zusammenbringen?“ Damit bezieht es sich auf eine biblische Verheißung aus Jesaja 11. Die von Chor und Orchester überzeugend vorgetragene Antwort lautet: „Wir werden es tun.“ Die Botschaft dieses Friedensliedes mit einer alten, sehnsuchtsvollen Melodie und einem neuen Text von Josh Waletzky wird quasi auf der Bühne verkörpert.
Dirigent Shneyveys stammt aus Lettland und lebt in New York. Er arbeitet bereits zum 14. Mal beim Yiddish Summer mit. Vom aktuellen Projekt ist er begeistert, vor allem von den talentierten jungen Musikern auf der Bühne, die so viel Freude ausstrahlen.
Das Konzert am 3. August endet in einem mitreißenden Finale, in dem Melodien und Rhythmen aus den verschiedenen Kulturen noch einmal aufeinandertreffen. Viele Zuschauer hält es nicht mehr auf ihren Stühlen, sie stehen auf, klatschen oder tanzen vor der Bühne. „Musik überwindet Grenzen“, hat der junge Student Mohammed, der Muslim und Israeli ist, vor der Premiere gesagt. Vor allem im Finale erweist sich, dass er recht hat. Und die Laune der beiden Sängerinnen, die schon vor der Generalprobe vergnügt die Treppe heraufkamen, hat sich nach diesem besonderen Erlebnis im ausverkauften Saal noch erhöht.
Von: Elisabeth Hausen