Der gescheiterte Putschversuch des 20. Juli 1944 ist bis heute umstritten. Aber gleichgültig wie und warum er kritisiert wird, dient dieser Versuch des Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Hitler bei einer Beratung mit einer Bombe zu töten, zur Ehrenrettung der Deutschen. Das Datum steht für die Behauptung, dass doch nicht „alle“ Deutsche blindlings dem „Führer“ gefolgt seien und deshalb auch nicht für den schlimmsten Völkermord der Menschheitsgeschichte an Juden und Millionen Kriegsgefangenen, Zigeunern sowie anderen Menschen „verantwortlich“ gemacht werden könnten.
Kritiker des Attentats auf Hitler befassten sich immer wieder mit der Frage, welches eigentlich die wahren „Motive“ der Verschwörer waren. Dazu gibt es schon zahlreiche Publikationen. Den Anstoß für diesen Artikel liefert Sophie von Bechtolsheim, die in der Schweiz lebende Enkelin von Stauffenberg. Ihr Buch „Stauffenberg. Mein Grossvater war kein Attentäter“ erschien am 28. Juni im Herder-Verlag.
Schwieriges Zitat
Zudem hat sie der „Neuen Zürcher Zeitung“ ein sehr emotionales Interview gegeben. Dort sagte sie: „Beim Begriff Attentäter denken wir an Terroristen, die mit Gewalt Aufmerksamkeit erregen wollten, an den IS, die RAF, Anders Breivik. Der Umsturzversuch vom 20. Juli war das Gegenteil davon: der Versuch, Terror und Tyrannei zu beenden.“
Dann wehrt sie sich gegen die verbreitete Behauptung, dass ihr Großvater Antisemit gewesen sei. Als Beleg für die Behauptung wird oft ein Brief Stauffenbergs an seine Frau Nina herangezogen. In diesem schrieb er kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt.“ Der Historiker Peter Steinbach sagt dazu, es gebe keine Hinweise dafür, dass der radikale Antisemitismus der Nazis ein zentrales Motiv für Stauffenbergs Widerstand gegen Hitler war. Steinbach ist der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
Die Enkelin, eine gelernte Historikerin, gesteht: „Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als ich diesen Brief zum ersten Mal gelesen habe. Die Sprache ist abscheulich.“ Die NZZ fragte, was der Brief über den Großvater aussage: „Dass auch er wohl ein Kind seiner Zeit war. Schon vor der Machtergreifung der Nazis war die Stimmung im Land unglaublich aufgeheizt. Wenn wir heute lesen, wie sich politische Gegner damals betitelt haben, finden wir das grauenhaft. Diese Sprache haben wir uns Gott sei Dank abgewöhnt.“ Weiter sagte sie: „Hinter den Äußerungen meines Großvaters hat sich jedenfalls kein Judenhass verborgen. Sie werden nirgendwo einen Beleg dafür finden, dass er die antisemitische Programmatik der Nazis befürwortet hätte. Wenn er von konkreten Übergriffen erfahren hat, dann hat ihn das zutiefst empört.“
Diskriminierung wegen Herkunft
An dieser Stelle muss ich, der Autor dieses Artikels, eine sehr persönliche Notiz einbringen: Meine Eltern haben mich auf den Namen meines angeheirateten Onkels getauft, Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld. Er war der Mann der Schwester meines Vaters, Marianne. Der war einer der Verschwörer beim Putschversuch, wurde vom Nazi-Richter Roland Freisler verhört und zum Tode verurteilt. Er wurde in Plötzensee am 8. September 1944 hingerichtet, also wenige Wochen nach dem gescheiterten Attentat.
Mein Vater war Diplomat. Ab meinem 4. Lebensjahr wurde ich immer wieder wegen meiner deutschen Herkunft diskriminiert. Die Grundschule in London besuchte ich knapp zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch später, im internationalen Gymnasium in Paris, erlebte ich, wie mir vor allem Franzosen den Arm ins Gesicht stießen und „Heil Hitler“ riefen. Nach einem Studium in Bonn und Köln gelangte ich vor etwa 50 Jahren nach Israel. Dort erlebte ich kaum jemals Ablehnung oder Anfeindungen wegen meiner deutschen Herkunft. Im Gegenteil: Für mich waren Begegnungen mit Überlebenden und die intensive Beschäftigung mit dem Holocaust und seinen Folgen eine beständige Verpflichtung.
Nachforschungen bei der „Familienfeier“
Für meinen Vater war die Beschäftigung mit dem 20. Juli ein lebenslanger „Auftrag“. Mein Vater wurde in der Potsdamer Wohnung Schwerins von der Polizei aufgegriffen und inhaftiert. Er saß kurze Zeit im Untersuchungsgefängnis in Potsdam. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Und so passierte es, dass ich vor einigen Jahren zu der jährlichen Gedenkfeier in Plötzensee eingeladen war. Dazu flog ich aus Jerusalem ein. Wegen der Anwesenheit vieler Verwandte und meines Vaters war die Zusammenkunft in Plötzensee fast eine Art „Familienfeier“. Und so hatte ich keine Bedenken, die Anwesenden zu fragen, was mich – aus Israel kommend – am meisten beschäftigte: Welche Rolle spielte der Holocaust für die Verschwörer?
Einige meiner Vettern meinten, dass das Schicksal der Juden und der Holocaust „keine“ Rolle gespielt habe. Mein Namensonkel Ulrich Wilhelm hatte beim Verhör durch Freisler im Volksgerichtshof von „den vielen Morden im In- wie Ausland“ gesprochen, bevor er von dem Nazi-Richter niedergeschrien wurde. Wer gemeint war, bleibt offen, ob Polen, Juden, Kommunisten oder andere.
Da einige Anwesende bei der Feier teilweise heftige antisemitische Meinungen äußerten, empfand ich mit Befremden, dass der Zeitgeist der Nazis wohl auch heute noch in gewissen Kreisen verbreitet war. Eine Ausnahme war Detlef Graf Schwerin von Schwanenfeld, der jüngste Sohn meines hingerichteten Onkels. Er war knapp drei Monate vor dessen Tod geboren.
Eine Frage der Generation
Detlef bestätigte dieser Tage, dass es in der Tat Unterschiede gegeben habe zwischen der „kulturell geprägten“ alten Generation der Verschwörer und den jüngeren Teilnehmern. Sein Vater Ulrich Wilhelm habe jedenfalls gewusst, dass auf seinem Grundstück in Sartowitz nicht nur Polen, sondern auch polnische Juden erschossen worden seien. Deshalb habe er in einem Testament von 1942 verfügt, „dort, sobald die Zeitumstände es erlauben“, ein Eichenkreuz zu errichten mit der Aufschrift: „Hier ruhen Christen und Juden, Gott sei ihrer Seele und ihren Mördern gnädig“. Die polnische Regierung hat heute die ehemalige Mordstätte in einen Ort des Gedenkens umgewandelt, dominiert durch ein hohes Kreuz.
Mein Vater erwähnte unter dem Eindruck meiner Erlebnisse nach jener „Familienfeier“ Ludwig Beck. Der hatte für das Deutschland nach dem Putsch gegen Hitler eine neue Verfassung geschrieben. Entsprechend des damaligen „Zeitgeistes“ habe er darin auch von einer „Lösung der Judenfrage“ geschrieben. Das ist eine Formulierung, die man heute, in der Verfassung der Bundesrepublik, keinesfalls mehr finden könne. Zu dem sehr delikaten Themenbereich Holocaust und 20. Juli 1944 sind schon Bücher, Analysen und sogar Filme veröffentlicht worden, darunter von Irmgard von der Mühlen: „Das Schicksal der Angehörigen der Opfer des 20. Juli 1944“.
Das Entsetzen bleibt
Infolge des Interviews in der NZZ habe ich der Stauffenberg-Enkelin Sophie von Bechtolsheim eine Email geschickt mit weiteren Fragen zu dem Thema. Inzwischen hat sie geantwortet. Sie schrieb: „Der Bericht eines Regimentskameraden, Major Kuhn, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, belegt, dass die Untaten der SS, unter anderem in den besetzten Ostgebieten, ausdrücklich auch die Behandlung der jüdischen Bevölkerung dort, ein Motiv für Stauffenberg gewesen seien, dass Hitler und sein Regime beseitigt werden müssten.“
Doch gegen Ende ihrer Nachricht stimmt sie zu, dass gewisse Zweifel wohl berechtigt seien. „Die Tatsache, dass manche allgemein von Morden und Verbrechen in den Ostgebieten sprachen, schließt meiner Meinung nach nicht aus, dass nicht auch die Morde an der jüdischen Bevölkerung gemeint waren. Ich wäre auch vorsichtig damit, eine unentschuldbare antisemitische Gesinnung eines Familienmitglieds auf andere zu übertragen. Aber ich verstehe Ihre Skepsis und Ihren Schmerz. Je mehr ich über diese Zeit erfahre, desto sprach- und ratloser macht mich das, was tatsächlich geschehen ist.“