Vor laufender Kamera des arabischen Nachrichtensenders „Al-Dschasira“ ist der frühere tunesische Präsident Moncef Marsuki in Tränen ausgebrochen. Der erschrockene Moderator entschuldigte sich und dankte ihm dann ehrerbietig für die wenigen Worte, die Marsuki zum Gedenken an den am 17. Juni im Gerichtssaal in Kairo plötzlich verstorbenen Chef der Muslimbrüder und ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi gesagt hatte.
Die regierungsfreundliche Tageszeitung „Yeni Şafak“ in der Türkei beließ es nicht bei Tränen. Chefredakteur Ýbrahim Karagül stellte Mursis Tod als Attentat dar und schrieb von einer Verschwörung der Regierungen Ägyptens, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate. Er nannte sie „Mörder“ im Namen der multinationalen Streitkräfte der USA und Israels: „Diejenigen, die Christus gekreuzigt und den Propheten Mohammed aus Mekka vertrieben haben, haben auch Mursi gemartert.“
Weiter heißt es da: „Wir haben einen weiteren Märtyrer in dem Kampf verloren, der seit der Zeit Adams geführt wurde. Diejenigen, die dem Weg von Ibrahim (Abraham), Ismail, Mussa (Mose), Isa (Jesus) und Mohammed folgen, die für Gerechtigkeit kämpfen und in den Reihen des Göttlichen stehen, haben den Schurken und Üblen der Welt ein weiteres Opfer dargebracht. Mohammed Mursi, der Gläubige, ein Patriot, ein guter Mann, ein Mann, der der ganzen Hässlichkeit der Welt den Rücken kehrte, ein Mann, der die Trauer von Tausenden von Märtyrern schulterte, die das Rabia-Symbol auf dem Rücken trugen, ein Mann, der Licht auf Ägyptens tausende von Jahren dunkler, grausamer Geschichte wirft, ein Mann, der Gottes Boten und ihre Botschaften gegen den Pharao, der mit Gott im Krieg war, festhielt – dieser Mann wurde zum Märtyrer gemacht.“
Iran kondoliert Hamas
Während die europäischen Staaten „achselzuckend wegschauten“, wie eine Schweizer Zeitung formulierte, sprach der schiitische Iran seinem sunnitischen Verbündeten im Gazastreifen, der Hamas, das Beileid aus. Die palästinensischen Islamisten sind aus den ägyptischen Muslimbrüdern hervorgegangen und halten bis heute enge Kontakte, sehr zum Verdruss der aktuellen ägyptischen Regierung. Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von Hassan el-Bana gegründet und unter den Sunniten rasch zu einer politischen Kraft. Sie sind die Mutterbewegung der Islamisten.
Noch ist nicht bekannt, wie es zum plötzlichen Tod des 67 Jahre alten ägyptischen Politikers kam. Bekannt ist nur, dass er während seines Prozesses im Gitterkäfig der Angeklagten aufstand und eine leidenschaftliche Rede hielt. Dann brach er zusammen. Im Krankenhaus konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Die Todesursache bleibt unklar.
HRW fordert Untersuchung
Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) forderte zum Tod Mursis Ermittlungen durch die Vereinten Nationen. In einer Erklärung heißt es: „Die ägyptische Regierung hat es sechs Jahre lang versäumt, Mursi seine Grundrechte als Häftling zu gewähren, darunter das Recht auf eine ausreichende medizinische Versorgung und Familienbesuche. Diese wurden ihm trotz seines sich offenbar verschlechternden Gesundheitszustands und seiner wiederholten Forderungen an die Justiz nach Zugang zu medizinischer Versorgung nicht gewährt.“ Dies verstoße gegen den „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ sowie gegen UN-Regelungen.
Die Opposition in Ägypten spricht von Folter im Gefängnis, mangelnder ärztlicher Versorgung und gar von Mord durch das jetzige Regime des Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi. Der Vatikan meldete, dass er ein kranker Mann gewesen und nicht ermordet worden sei.
Es gibt keinen veröffentlichten Mitschnitt von Mursis Rede im Käfig der Angeklagten und keinen Hinweis zu dem, was er dort mitteilte. Eine Obduktion wird nicht durchgeführt, ehe seine Leiche für ein Begräbnis im kleinsten Familienkreis freigegeben wurde. Die Behörden wollen Unruhen vermeiden. Die Emotionen in der arabischen Welt und besonders unter den überall präsenten Muslimbrüdern kochen hoch.
Hintergrund Ägypten
Ägypten ist mit etwa 100 Millionen Einwohnern das größte und mächtigste arabische Land. Die Monarchie unter König Faruk endete 1952 mit dem Putsch des Colonel Gamal Abdel Nasser. Seitdem haben die Militärs das Sagen im Land des Nils und der Pharaonen. Anwar el-Sadat folgte auf Nasser. Dann kam Hosni Mubarak an die Macht. Sadat wagte den ungeheuren „Frevel“, mit dem jüdischen Staat Israel 1979 ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Dafür räumte Israel die Sinai-Halbinsel, samt der dort errichteten Siedlungen und Städte. Sadat wurde bei einer Militärparade von Soldaten erschossen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Attentat der Muslimbrüder, die ihren Präsidenten wegen seiner „Sünde“, Frieden mit Israel geschlossen zu haben, strafen wollten.
Sadats Nachfolger, Hosni Mubarak, war ebenfalls ein Militär. Formal setzte er die Politik Sadats fort, hatte aber ein deutlich kühleres Verhältnis zu Israel. Gleichwohl befolgte er alle Vorgaben des Friedensvertrages. Dafür erhielt er jährlich von den USA 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe sowie Wirtschaftshilfe in Höhe von 700 Millionen Dollar. Während seiner 30-jährigen Amtszeit hielt er die Muslimbrüder unter strenger Kontrolle.
Gleichwohl initiierte der amerikanische Präsident Barack Obama mit seiner berühmten Kairoer Rede am 4. Juni 2009 den Sturz Mubaraks. Obama sorgte dafür, dass Mubarak zu der Veranstaltung nicht eingeladen wurde. In der arabischen Welt, wo Respekt und Ehre höchsten Stellenwert haben, war das ein unerträglicher Affront und der Auftakt für Mubaraks Sturz. So kam es im Januar 2011 nach der Jasmin-Revolution in Tunesien zu den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, zu einem Sturm auf die israelische Botschaft und zu den ersten demokratischen Parlamentswahlen des Landes.
Dank ihrer Vernetzung über alle Moscheen in Ägypten gewannen die Muslimbrüder nach einer kurzen Zeit der Herrschaft von Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi und Abd el-Fattah as-Sisi im Juni 2012 die Wahlen. So wurde Mohammed Mursi der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens.
Israelische Medien schließen Mord aus
Doch die seit Jahrzehnten andauernden Fehden zwischen Militär und Muslimbrüdern dauerten an. Mursi wurde vorgeworfen, in seiner Amtszeit als Präsident gegen Gesetze und die Verfassung verstoßen zu haben. Das konnte das allmächtige ägyptische Militär nicht hinnehmen.
Militärchef Al-Sisi putschte im Juli 2013 gegen Mursi und ließ ihn ins Gefängnis stecken. Falls die ägyptische Regierung tatsächlich die Absicht hatte, Mursi „aus dem Weg zu schaffen“, also umzubringen, fragt sich, warum sie ganze sechs Jahre damit gewartet hat. Das analysierten israelische Medien und schlossen allein deshalb einen Mord aus.
Von: Ulrich W. Sahm