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Ein Schabbat-Essen in Jerusalem

„Meine Oma war in Auschwitz. Wie ist es, als Deutsche in Israel zu leben?” Als das Eis gebrochen ist, kommen all die aufgestauten Fragen auf den Tisch. Ein Abendessen bringt mich ins Nachdenken über christlich-jüdische Beziehungen.
Gedeckter Tisch vor einem Schabbat-Essen

Die Stimmung ist ausgelassen. Jerusalemer kommen in einer kleinen Wohnküche im gemütlichen Stadtviertel Nachlaot zusammen. Die Jeruschalmis treffen sich am Freitagabend, um den Beginn des wöchentlichen Ruhetages Schabbat zu feiern. Gastgeberin Racheli bittet an den vollgedeckten Tisch. Damit alle Platz finden, hat Schani aus dem Nachbarhaus zwei Plastikstühle mitgebracht. Schanis Freund Avner ist an diesem Wochenende in Jerusalem zu Gast, außerdem zwei seiner Freunde, Michael und Boas, sowie Adi und Benni, Freunde von Racheli. Abgesehen von mir scheinen sich alle zu kennen. Alle sind Ende Zwanzig bis Mitte Dreißig und nationalreligiöse Juden.

Benni und Racheli waren mir in letzter Zeit öfter am Schabbat im Stadtpark begegnet und wir sind ins Gespräch gekommen. Ich lud sie zu mir nach Hause ein, aber weil ich in einem nichtkoscheren Haushalt lebe, war klar, dass sie nicht bei mir essen konnten. Ich freute mich deshalb, als Racheli mit der für Israelis typischen offenen Art fragte: „Möchtest du am nächsten Schabbat zu mir zum Essen kommen?“ Ich wollte. Es vergeht kaum ein Schabbat in Israel, an dem ich nicht irgendwo zum Essen eingeladen bin oder auch selber einlade. Manchmal nehme ich Freunde oder Bekannte mit, die gerade aus Deutschland zu Besuch sind. Mit religiösen Juden ist jeder Freitagabend ein Fest, aber auch säkulare und messianische Juden haben wunderschöne Traditionen, den Schabbat zu feiern. Wer keine eigene Familie hat, lädt Freunde ein.

Diskussion: Als Jude nach Deutschland fahren?

An jenem Abend stellt mich Benni fröhlich seinen Freunden vor. Doch die scheinen nicht ganz so offen. Sie geben sich Mühe, ihre Unsicherheit zu überspielen, aber das Gespräch findet größtenteils ohne mich statt. Zunächst ist das in Ordnung, aber die vorher so lockere Atmosphäre wirkt nun ein bisschen künstlich, etwas verkrampft. Ich tue so, als würde ich nichts merken und versuche, ganz normal zu sein. Neben mir sitzt auf der einen Seite Michael, ein attraktiver kräftiger Mann, auf dessen großem Kopf die kleine blaue Kippa fast ein bisschen verloren wirkt. Er ignoriert mich zu Beginn fast vollständig. Auf der anderen Seite sitzt Adi, eine hübsche zarte Frau, die von ihrer Arbeit als Ergotherapeutin berichtet.

Plötzlich, ganz unmittelbar, wendet sich Michael doch an mich: „Sag mal, wie ist es eigentlich, als Deutsche in Israel zu leben? Also, ich meine, es ist ja schon so, dass …“, er sucht nach Worten, „also weißt du, meine Großmutter kommt auch aus Deutschland. Sie hat in Frankfurt gelebt, bevor …“ Ich nicke. Nun hört Michael gar nicht mehr auf zu sprechen. „Sie kam ins Lager. Nach Auschwitz.“ Jetzt ist es heraus. Ab jetzt geht der Abend entspannt weiter, das Eis ist gebrochen.

Die Israelis löchern mich mit Fragen: Ist es wirklich so, dass in Berlin fast nur noch Araber wohnen? Stimmt es, dass ich meine Kippa in Deutschland nicht auf der Straße tragen kann? Was haben deine Großeltern im Zweiten Weltkrieg gemacht? Schani, deren Großeltern aus dem Iran stammen, sagt: „Es tut mir leid, dass wir dir so viele Fragen stellen. Aber wann haben wir schon mal die Gelegenheit, so offen mit einer Deutschen zu sprechen?“ Boas möchte wissen, ob ich überhaupt Juden in Deutschland kenne. Und warum sie meiner Meinung nach dort leben wollen.

Meine neuen Freunde beginnen darüber zu diskutieren, ob sie nach Deutschland fahren würden oder nicht. Michael wehrt sich entschieden: „Auf keinen Fall! Bei jedem, dem ich auf der Straße begegne, würde ich darüber nachdenken, was seine Vorfahren im Zweiten Weltkrieg gemacht haben!“ Ich hake nach: „Und wenn ich dich zu meiner Familie nach Hause einladen würde? Würdest du dann auch nicht kommen?“ Die Frage ist ihm unangenehm, aber plötzlich scheint er gar nicht mehr so abgeneigt: „Vielleicht, wenn ich mit dem Flugzeug direkt bei deinen Eltern vor der Haustür landen könnte. Aber ich muss ja vom Flughafen quer durch Deutschland zu ihnen kommen. Also nein.“

Provokativ hake ich nach: „Es würde ja sowieso nicht gehen. Bei uns zu Hause gibt es keine koschere Küche.“ Wieder antwortet er sehr bestimmt: „Das würde schon gehen. Wir nehmen unsere eigenen Töpfe mit, wenn wir ins Ausland fahren, und wenn sie dann kein Fleisch kochen … das wäre schon möglich.“ Die anderen amüsieren sich. Der, der eben noch so rigoros Nein zu einem Deutschlandaufenthalt gesagt hat, plant plötzlich einen Besuch bei meinen Eltern in der mecklenburgischen Provinz.

Das kollektive Gedächtnis der Juden ist stark ausgeprägt

„Stimmt es, dass ihr Christen uns missionieren wollt, damit wir Christen werden?“, möchte Schani wissen. Benni, der gar nicht hier wohnt, entpuppt sich als vollendeter Gastgeber: „Du musst nicht antworten.“ Doch als Deutsche, die seit Jahren in Israel lebt, bin ich es gewohnt, solche Fragen auszuhalten und zu beantworten. Vor allem Leute, die mich beim ersten Mal skeptisch oder neugierig ausfragen, sind oft diejenigen, die ab unserer zweiten Begegnung stolz ihren Freunden gegenüber prahlen, dass sie mit einer Deutschen befreundet sind.

In Römer 9–11 geht Paulus auf die Beziehung von Juden und Nichtjuden ein. In Römer 11,11 schreibt er: „So frage ich nun: Sind sie gestrauchelt, damit sie fallen? Das sei ferne! Sondern durch ihre Verfehlung ist den Heiden das Heil widerfahren; das sollte sie eifersüchtig machen“. Der Inhalt des ersten Teiles scheint für die meisten Christen auf der Hand zu liegen: Weil die Juden „gefallen sind“, also ihren Messias nicht erkannt haben, haben wir die Möglichkeit erhalten, direkt zum Vater zu kommen. Wir Nichtjuden haben also den Juden unser Heil zu verdanken. Daran besteht kein Zweifel und deshalb sagen wir aus ganzem Herzen: Danke Jesus; danke Gott! Doch was ist mit dem letzten Teil des Verses: „Das sollte sie eifersüchtig machen“?

Was bewirkt es in Juden, wenn sie sehen, dass Nichtjuden an den Messias glauben, der doch zuerst für sie bestimmt war? Für Paulus scheint eine natürliche Folge zu sein, dass Juden eifersüchtig würden, wenn sie sähen, wie Nichtjuden zum Glauben an ihren, den jüdischen, Messias kämen. Quasi ein Selbstläufer. Wie anders ist doch die Realität! Wenn religiöse Juden in Israel hören, dass ihr Gegenüber Christ ist, ist da zunächst eine große Skepsis. Nicht immer werden die Worte ausgesprochen, aber der Gesichtsausdruck spricht Bände: „Christen? Ihr seid doch die, die zweitausend Jahre versucht haben, meine Familie auszurotten!“ Das kollektive Gedächtnis der Juden ist stark ausgeprägt.

Wie hieß es noch bei Paulus? „Das sollte sie eifersüchtig machen“. Eifersucht setzt eine Beziehung voraus. Basis für eine Beziehung ist das Interesse am Anderen. Mir stellt sich die Frage, wo wir in Deutschland und als Christen allgemein eine Beziehung zu Juden auf Augenhöhe führen. In Israel erlebe ich öfter, wie christliche Besucher Juden begegnen mit der Einstellung: „Ich erzähle euch jetzt mal, wie man richtig glaubt.“ Dabei hat ein Gespräch und Kennenlernen noch gar nicht stattgefunden.

Es gibt wieder jüdisches Leben in Deutschland. Ich wünsche mir, dass wir dankbar dafür sind, Beziehungen aufbauen und einander unterstützen. Vielleicht besuchen Sie mal einen Gottesdienst in der nächstgelegenen Synagoge? Oder erwägen einen Besuch in Israel? Und wer weiß? Möglicherweise ergibt sich daraus später auch mal ein Schabbat-Essen in Jerusalem.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin EiNS der Deutschen Evangelischen Allianz.

Von: Merle Hofer

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