Ist Antisemitismus wirklich nur ein Problem der „Rechten“? Wer die Statistik zur „politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) des Bundeskriminalamtes liest, wird die Frage bejahen. Demnach wurden im Jahr 2016 bundesweit 1.468 antisemitische Straftaten begangen, 1.381 davon ordnete die Polizei Tätern mit politisch rechter Motivation zu, was gut 94 Prozent entspricht.
Ein anderes Bild zeigt hingegen die Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“ vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Hier gaben Opfer von antisemitischen Gewaltdelikten zu 81 Prozent an, dass bei körperlichen Angriffen die Täter einer „muslimischen Person/Gruppe“ angehört hätten.
Und nun kommt Arye Sharuz Shalicar und schildert in seinem Buch mit dem Titel „Der neu-deutsche Antisemit“ ein umfangreicheres Bild, als es diese Statistiken tun – und zwar aus eigenem Erleben. Shalicar ist weder Historiker noch „Nahostexperte“, wie sie sich vor den Kameras von ARD und ZDF tummeln. Doch der 41-Jährige hat von seiner Kindheit in Berlin-Wedding bis zum israelischen Militärsprecher eine denkwürdige Karriere hingelegt. Das verleiht ihm eine Expertise, die weder deutsche Forscher in ihrem akademischen Elfenbeinturm noch die zahllosen „Experten“ in den Medien aufweisen können. Denn er war dabei.
Prägende Erlebnisse
In seiner Jugend half Shalicar den Eltern, auf dem Wochenmarkt an der Möckernbrücke in Kreuzberg billige Klamotten zu verkaufen. Eine arme jüdische Familie aus dem Iran unter armen muslimischen Familien aus der Türkei. Das ging solange gut, bis seine Freunde merkten, dass er Jude ist. Er schreibt: „Kein anderer jüdischer Deutsch-Israeli hatte und hat weiterhin ‚das Glück‘, Vorurteile und Hass von Seiten der neuen deutschen Antisemiten gegenüber den Juden und dem jüdischen Staat am eigenen Leibe so extrem und so facettenreich kennenlernen zu dürfen wie ich. Sei es in den 90ern in Berlin-Wedding unter Muslimen, während meiner Dienstzeit als offizielles Sprachrohr der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) im täglichen Kontakt, unter anderem mit hunderten deutschen Journalisten und linksextremen Aktivisten, oder seit drei Jahren auf meiner Facebook-Fanpage, auf der tausende Deutsche ihre Meinung posten.“
Von diesen Erfahrungen profitiert sein aufrüttelndes Buch. Denn er bringt ausführlich Zitate aus den Kommentaren, die auf seiner Facebook-Seite aufgeschlagen sind. Deren Verfasser reiben sich daran, dass er zugleich Jude, Deutscher und am Ende sogar ein offizieller israelischer Sprecher ist.
Blinder Judenhass
Schon in seiner Jugend erlebte er in Berlin-Wedding einen „Spießrutenlauf“: Unter Türken, Libanesen, Syrern und Palästinensern war er oft brutaler Gewalt und dem blinden Hass gegen Juden ausgesetzt. Er ist von der Schule geflogen, weil er wegen seiner Erlebnisse „aufbrausend“ und nicht diszipliniert war, wie es seine (deutschen) Lehrer von ihm erwarteten. Auf seinen Tisch hatte er antisemitische Sprüche seiner „Freunde“ gekritzelt und vergessen, das zu löschen. So wurde er erwischt. Der Lehrer, „Herr K.“ erklärte, dass Rassismus nicht geduldet werde und verwies ihn von der Schule.
Wie Shalicar in seinem Buch schreibt, sei der Lehrer nach 15 Jahren zu einer Lesung aus seinem früheren Buch „Ein Nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ in die Synagoge Fasanenstraße in Berlin gekommen. Herr K. entschuldigte sich und sagte: „Ich wusste nicht, dass Sie Juden waren.“ Das zeige, dass der Lehrer nicht einmal mit seinem Schüler geredet hat, ehe er ihm durch den Rauswurf aus der Schule fast das künftige Leben zerstörte.
Konsequent einseitige Berichte
Als Militärsprecher, Regierungsbeamter und fleißiger Schreiber in den sozialen Netzwerken traf Shalicar „Tausende Deutsche“. In seinem Buch nimmt er kein Blatt vor den Mund und kritisiert namentlich bekannte Korrespondenten und Politiker, wie sie mit ihren Meinungsstücken nur 70 Jahre nach dem Holocaust in Deutschland den Antisemitismus offen schüren. Die vermeintlichen „Verpflichtungen“ gegenüber Israel werden relativiert durch konsequent einseitige Berichte.
Beliebt ist die Herausstellung erschossener palästinensischer Jugendlicher, ohne dass deren Mordversuche an Juden/Israelis mit Messerattacken und Terroranschlägen erwähnt würden. Raketenangriffe auf Israel sind nur eine Fußnote in Darstellungen israelischer Militäreinsätze. In der deutschen Öffentlichkeit, die sich nur über ARD, ZDF und die großen Zeitschriften informiert, schüre das unweigerlich eine anti-israelische und letztlich auch antisemitische Stimmung, weil Israelis automatisch mit Juden gleichgesetzt würden.
Vielfältiger Antisemitismus
Doch es ist nicht nur die Berichterstattung. Es ist auch der akademische Neid und der Hass auf israelische Künstler, der sich in der Boykottbewegung BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) äußert. Shalicar sieht die Gefahren bei der neu erstarkten Rechten, der er ein Kapitel widmet, aber genau so auch in der Rolle der intellektuellen Linken: „Ihre pazifistische Einstellung sagt ihnen zudem, dass im Falle eines Konfliktes, in den Israel verwickelt ist, die israelische Armee automatisch der Aggressor ist und ausnahmslos unverhältnismäßig vorgeht, während arabischer Terror als eine Art legitimer und romantischer Freiheitskampf angesehen wird.“
Die Problematik innerhalb der christlichen Kirchen, die Shalicar prägnant beschreibt, wäre ein weiteres Buch wert. Genauso wie die vielleicht tragischste Variante des Antisemitismus, der jüdische Selbsthass, dem Shalicar wiederholt persönlich begegnet ist. Namentlich erwähnt er sogenannte „Alibi-Juden“, wie die Professoren Mosche Zimmermann, Mosche Zuckermann und den ehemaligen Botschafter Avi Primor. Sie alle hätten in Israel nichts mehr zu sagen. In deutschen Medien würden sie aber wie „authentische Sprecher“ Israels vorgestellt.
Bedenken bleiben
Gegen Ende seines Buches stellt Shalicar fest: „Es ist schlicht und einfach die Hölle auf Erden, auf dieser Welt Jude zu sein!“ Und dennoch behauptet er optimistisch: „Nichtsdestotrotz kann ich bezeugen, dass Deutschland größtenteils für die Juden sicher ist und kein Zweifel daran besteht, dass Juden heute, mehr als je zuvor, zu Deutschland gehören.“
Auch aufgrund von Shalicars Analyse fällt es allerdings schwer, diesen Optimismus in Bezug auf Deutschland zu teilen. Vielleicht sollte man seinen Satz ergänzen: Ja, Deutschland ist für Juden sicher – vorausgesetzt, dass die Juden sich nicht als solche zu erkennen gebe. Damit Deutschland wirklich für Juden sicher wird, muss Shalicars Buch weite Verbreitung finden.
Von: Ulrich W. Sahm