GAZA (inn) – Jahja Sinwar, seit 2017 Chef der islamistischen „Widerstandsbewegung“ Hamas in Gaza, gilt allgemein als medienscheu. Für Schlagzeilen sorgte daher das Interview, das er kürzlich der italienischen Kriegsreporterin Francesca Borri exklusiv gegeben hatte. Die israelische Tageszeitung „Yediot Aharonot“ hatte das Interview der freien Journalistin prominent in ihrer Wochenendausgabe platziert.
In ihrer Einführung zum Interview schreibt Borri, dass Sinwar jemand sei, der es gewohnt ist, seinen Leuten gut zuzuhören. Entscheidungen treffe er erst, wenn er alle Seiten gehört habe. Wenn jedoch eine Entscheidung gefallen sei, setze er sie hart durch. In Borris Anwesenheit hat Sinwar nicht das Wort „Israel“ genannt, er habe aber auch nicht von der sonst in solchem Kontext „üblichen Bezeichnung ‚Zionistische Entität‘ gesprochen“. Stattdessen habe er die Begriffe „die Armee“, „Netanjahu“, „die andere Seite“ und „die Besatzung“ genutzt.
Auf Borris Frage, warum Sinwar ausgerechnet jetzt bereit sei, der westlichen Presse ein Interview zu geben, von dem er zudem wisse, dass es in einer israelischen Zeitung erscheinen würde, sagte er: „Zur Zeit sehe ich eine echte Chance zur Veränderung!“ Borri fragte ihn nach der Welle der Gewalt im Sommer, die Branddrachen, Raketen nach Israel, Konfrontationen an der Grenze, Verletzte und Tote enthalten habe. Sinwar erklärte, dass die Besatzung im Gazastreifen das eigentliche Übel sei. Es sei nicht so, dass in Gaza in manchen Zeiten Krieg und zu anderen Zeiten Frieden sei. Doch die Intensität der Bedrohungslage verändere sich. „Wenn Sie schon von einem Krieg sprechen, sage ich: ein neuer Krieg liegt in niemandes Interesse! Und sicher nicht in unserem! Warum sollte sich jemand mit nur vier Steinschleudern einer Atommacht gegenüberstellen?“ Sinwar beendete diese Frage mit den Worten: „Nein, mit einem Krieg erreicht man rein gar nichts.“
„Im Interesse meines Volkes“
Sinwar erklärte weiterhin, dass er kein militärischer Mensch sei: „Ich bin lediglich der Führer der Hamas in Gaza. Meine erste Pflicht ist es also, im Interesse meines Volkes zu handeln, es zu schützen und auf sein Recht für Freiheit und Unabhängigkeit zu drängen. Sie sind eine Kriegsreporterin. Aber wollen Sie Krieg?“ Borri antwortet: „Nein“. Daraufhin sagt Sinwar: „Warum also sollte ich den wollen? Wer weiß, was Krieg bedeutet, möchte keinen Krieg.“
Sinwar erklärte: „Ich sage nicht, dass ich nicht mehr kämpfen werde. Aber ich möchte keine weiteren Kriege. Was ich will, ist ein Ende der Blockade.“ Sinwar gibt sich volksnah: „Abends, zum Sonnenuntergang, geht man am Meer spazieren und sieht, wie die kleinen Kinder sich am Wasser unterhalten. Sie fragen sich, wie wohl die Welt jenseits des Meeres aussieht und wie das Leben dort ist. Wer ihnen zuhört, dem bricht das Herz. Es sollte das Herz eines jeden brechen. Ich möchte, dass diese Kinder frei sein werden.“
Auf die zwei von der Hamas festgehaltenen israelischen Zivilisten sowie die Leichenteile zweier israelischen Soldaten und deren Austausch mit palästinensischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen angesprochen, sagt Sinwar: „Das ist keine politische, sondern eine moralische Frage. Ich werde alles dafür tun, die zu befreien, die noch im Gefängnis sind.“ Sinwar, der selbst zweieinhalb Jahrzehnte in Israel inhaftiert war, sagt: „Für uns ist das Gefängnis fast wie eine Zeremonie zum Erwachsenwerden. Wenn es etwas gibt, das uns eint – wenn es etwas gibt, das uns tatsächlich zu Palästinensern werden lässt, dann ist es das Gefängnis.“ Im Interview machte Sinwar deutlich, dass er nicht an einer Feuerpause mit Israel interessiert ist, solange die Blockade besteht: „Wir sind keine Bettler, wir wollen so wie alle arbeiten, lernen und reisen. Wenn wir eine Veränderung bemerken, können wir weitermachen. Die Hamas wird alles dafür tun, um eine Feuerpause einzuhalten. Aber ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben. Und ohne Freiheit gibt es keine Gerechtigkeit. Einen Grabesfrieden möchte ich nicht!“
„Zeit für Veränderung ist da“
Die Hauptbotschaft des Interviews fasste Sinwar wie folgt zusammen: „Die Zeit zur Veränderung ist gekommen. Die Blockade und die Besatzung müssen beendet werden.“
Dafür, dass 80 Prozent der Bewohner im Gazastreifen auf humanitäre Hilfe angewiesen seien, gab Sinwar eine einfache Erklärung: „Die Verantwortung liegt bei denen, die die Grenzen schließen, nicht bei denen, die versuchen, sie zu öffnen. Meine Verantwortung ist es, mit denen zu kooperieren, die die Besatzung beenden können. In der gegenwärtigen Situation scheint eine Explosion der Lage unausweichlich.“
Das Interview sei exakt durchgeplant gewesen und Sinwar habe die Antworten nicht allein verfasst. Die Worte seien sorgfältig gewählt. Die Botschaft des Interviews richte sich sowohl an die Palästinenser im Gazastreifen, die „die Herrschaft der Hamas leid“ seien, als auch an die Leser im Westen, denen Borri ermöglicht, den führenden Hamasfunktionär als jemanden zu sehen, der sich um das Wohl seines Volkes sorge und nicht nur als die Karikatur eines blutrünstigen Fanatikers. Dies schrieb die Korrespondentin der israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“, Amira Hass, in einem Beitrag mit Berufung auf einen Bewohner des Gazastreifens. Hass zufolge sei das Interview vor allem schriftlich geführt worden.
Fünf Tage mit Sinwar
Borri selbst gibt an, dass sie sich im Zeitraum von fünf Tagen mehrfach mit Sinwar getroffen habe, teilweise in seinem Büro in der Stadt Gaza und lediglich in Begleitung eines Übersetzers, andere Male seien einige von Sinwars Vertrauten dabei gewesen. Manche Treffen hätten drei Stunden gedauert, andere nur eine halbe Stunde. Am Anfang habe sie bei den Treffen noch einen Hidschab getragen, doch schnell habe sie verstanden, dass das nicht nötig sei.
An die Israelis gewandt, führt die Italienerin ihr Interview ein: „Mir ist bewusst, dass Jahja Sinwar für die Mehrheit der Israelis als Feind gilt. Ein Mann, der 22 Jahre im israelischen Gefängnis verbracht hat und vor sieben Jahren im Rahmen des Schalit-Deals freigekommen ist, nur um kurz darauf Hamas-Führer im Gazastreifen zu werden. Deshalb wird das Interview nicht leicht zu lesen sein. Ich weiß auch, dass ich niemals in der Lage sein werde, das zu fühlen, was ihr fühlt. Aber eines verspreche ich euch: Ich habe versucht, die beste professionelle Arbeit zu tun, schwere Fragen zu stellen und Sinwar nicht einfach davonkommen zu lassen.“
Von: mh