Es sind beunruhigende Nachrichten, die uns seit einigen Jahren aus Großbritannien erreichen. Nein, ich rede nicht von dem Ausstieg des Königreichs aus der Europäischen Union, nicht von der Sackgasse, in der die Austrittsverhandlungen stecken, und auch nicht von der Uneinigkeit der konservativen Regierung. Ich rede von einem Mann und seiner Ideologie: Jeremy Corbyn, seit 2015 Vorsitzender der Arbeiterpartei Labour.
Es ist jener Mann, der die Islamisten und Terroristen von Hisbollah und Hamas 2009 als „Freunde“ bezeichnete. Der Mann, der 2014 an einer Gendenkveranstaltung teilnahm, bei der es auch um Terroristen mit Bezug zum anti-israelischen Anschlag im Olympischen Dorf in München 1972 ging. Der Mann, der sich wegen der Entfernung eines antisemitischen Graffitos besorgt um die Meinungsfreiheit zeigte.
Und es ist seine Partei, die in den vergangenen Jahren zahlreiche ihrer Mitglieder wegen Antisemitismus ausschloss und mehrere Untersuchungen über Antisemitismus in ihren Reihen einleiten musste. Eine Partei, in der ein hochrangiges Mitglied, der ehemalige Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, vor seinem Rausschmiss behaupten konnte, Hitler habe den Zionismus unterstützt. Eine Partei, auf deren Parteitag zuletzt euphorisch palästinensische Flaggen geschwenkt und dann ein Waffenembargo gegen Israel gefordert wurde. Und eine Partei, die es nicht hinbekam, die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz zum Gedenken an den Holocaust (IHRA) uneingeschränkt als die ihrige anzuerkennen. Erst nach einem Aufschrei lenkte man ein.
Israel als koloniales Projekt
Doch woher kommt dieser Hass auf Israel, der bisweilen deutlich antisemitische Züge annimmt, ausgerechnet bei einer linken Partei und einem linken Spitzenpolitiker, der sich dem Antirassismus verschrieben hat? Warum ist er dort salonfähig? Die Neue Linke verstehe unter Rassismus in erster Linie eine Diskriminierung aufgrund einer dunklen Hautfarbfarbe, erklärt der britische Autor David Rich in seinem Buch „The Left’s Jewish Problem“ dazu. „In dieser Weltsicht können jene, die Macht haben, nicht Opfer von Rassismus sein und jene ohne Macht keine Rassisten.“ Linke verfallen dem Antisemitismus demnach unter anderem, weil er „die Befreiung der Welt von einer versteckten mächtigen jüdischen Hand verspricht“.
Der glühende Antizionismus der britischen Linken findet seinen Ursprung derweil in den 60er und 70er Jahren, einer Zeit, „in der linke Einstellung zu allem – einschließlich Israel – ins Gegenteil verkehrt wurden“. In der sogenannten „New Left“-Bewegung sieht Rich das „Saatbeet“ für die Ideen, aus denen der heute geläufige Antizionismus in der Linken hervorging. Damals löste ein identitätspolitischer Blick auf die Welt den vorherigen klassenpolitischen Blick ab. Plötzlich standen verstärkt Kolonialismus, Militarismus und Rassismus im Fokus der Linken statt der heimischen Arbeiterklasse.
Obwohl die Labour-Partei die Errichtung einer „nationalen Heimstätte“ der Juden durch die Balfour-Deklaration und die sozialistischen jüdisch-zionistischen Pioniere seit jeher unterstützte und Juden überproportional in den linken Parteien vertreten waren, wurde Israel so in den 60er Jahren zum zentralen Angriffspunkt der Neuen Linken. Zionismus wurde und wird als „europäisch-koloniale Bewegung angesehen und Israel als Bastion weißer europäischer Siedler“, das somit keine Existenzberechtigung hat, erklärt Rich. Er verweist auf den Einfluss der Sowjetpropaganda sowie auf Parallelen zum Narrativ der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), macht aber auch deutlich, dass sich die ideologischen Grundlagen dafür bereits in Karl Marx‘ Ausführungen „Zur Judenfrage“ finden.
„Jede antiamerikanische Bewegung wird als progressiv angesehen“
Während der Wohlstand in der westlichen Welt fortschritt, projizierten Linke ihre Revolutionswünsche nun auf „Widerstandsbewegungen“ der Dritten Welt. „Die politische Logik ist simpel: Jede Bewegung, die gegen Amerika oder einen ihrer Verbündeten kämpft, wird als progressiv angesehen, unabhängig von ihrer eigentlichen Ausrichtung“, erläutert Rich. Und „Israel/Palästina“ wird als Front in diesem Kampf zwischen Imperialisten und Unterdrückten verstanden. Corbyns Sympathie für Hamas und Hisbollah ist genau vor diesem Hintergrund der „New Left“ zu sehen.
Durch den Sechstagekrieg 1967 bekam das anti-israelische Narrativ zusätzlichen Aufwind, bevor es in den 80er Jahren – auch dank umfangreicher, teils mit der PLO koordinierter und von arabischen Staaten unterstützter Kampagnen – auch in Labour zunehmend populär wurde. Der Apartheid-Vorwurf war geboren – und erfolgreich: „Er hat einen mythischen Status auf der Linken, der jedem, der ihn erhebt, augenblicklich moralische Autorität verleiht“, sagt Rich.
Wenn aus Antizionismus Antisemitismus wird
Aber ist das alles nun nicht nur antizionistisch, sondern auch antisemitisch? Wo verläuft die Grenze? Klar ist: Antizionismus kann häufig antisemitische Konsequenzen haben. So führte etwa in den 70er Jahren eine sogenannte „No Platform“-Politik (unter anderem gegen Zionismus) an Universitäten zur Beschränkung der Aktivitäten jüdischer Organisationen. Und: Für 95 Prozent der britischen Juden ist Israel ein wichtiger Teil ihrer Identität, wie eine Umfrage aus dem Jahr 2010 zeigt. Damit ist eines klar und deutlich: Antizionismus attackiert einen Grundpfeiler des jüdischen Selbstverständnisses.
Antizionismus und Antisemitismus sind auf der Linken, ebenso wie in der Labour-Partei selbst also kein individuelles Phänomen, sondern ein massives Problem. Dass Corbyn einige seiner antikolonialen Weggefährten nun als Berater um sich schart, macht die Sache nicht besser. „Mit Jeremy Corbyns Wahl ist das, was sich einst am Rande der Linken befand, nun mitten auf der großen politischen Bühne platziert“, meint Rich. Dass Labour sich mittelfristig von diesen Elementen lösen kann, ist kaum vorstellbar: Große Teil der Linken glauben, aufgrund ihres antirassistischen Weltbildes gar kein Antisemitismusproblem haben zu können.
Corbyn selbst müsste sich von weiten Teilen seiner politischen Vergangenheit distanzieren und mehr oder weniger seiner politischen Identität abschwören. Er müsste Antisemitismus nicht nur als randständiges, sondern als großes Problem der Linken anerkennen, das auch auf seinem eigenen Weltbild fußt. Und nebenbei müsste er damit auch auf Zustimmung aus der muslimischen Community verzichten, mit der er zum Beispiel im Rahmen der „Stop the War Coalition“ in den 2000ern gerne gemeinsame Sache gegen den Westen gemacht hat. Lieber kündigt er also an, im Falle eines Wahlsiegs einen „Staat Palästina“ anzuerkennen.
39 Prozent der Juden überlegen zu gehen
Corbyn hat in den vergangenen Wochen und Monaten gezeigt, dass er lieber laviert, als sich klar und unmissverständlich zu distanzieren. Dass der Labour-Chef im Falle möglicher Neuwahlen nicht ganz schlechte Chancen hat, Premier zu werden, muss uns große Sorgen bereiten. Dass mit Sahra Wagenknecht die Bundestagsfraktionschefin einer deutschen Partei ihm mehr oder weniger unhinterfragt zujubelt, im Übrigen auch.
39 Prozent aller britischen Juden würden im Fall einer Wahl Corbyns „ernsthaft“ über eine Auswanderung nachdenken, ergab eine Umfrage des „Jewish Chronicle“ kürzlich. Die meisten würde es dann vermutlich nach Israel ziehen – der Lebensversicherung des jüdischen Volkes, für die ein nicht geringer Teil der Labour-Partei offenbar nichts als Verachtung übrig hat.
Von: Sandro Serafin