Der Journalist Stefan Kornelius hat für die „Süddeutsche Zeitung“ am 9. August eine Videoanalyse zum Nahostkonflikt abgeliefert. Dabei ist dem Leiter des Ressorts Außenpolitik etwas geglückt, was auch den besten Reportern vor Ort nur selten gelingt: Kein einziger Satz ist frei von Ressentiment. Um diese „Leistung“ zu verstehen, bietet es sich an, sie Stück für Stück unter die Lupe zu nehmen.
„In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag flogen 180 Raketen und Geschosse aus dem Gazastreifen auf israelisches Territorium. Die israelischen Streitkräfte flogen ihrerseits 150 Angriffe auf Ziele im Gazastreifen und richteten dort auch große Zerstörung an. Ist der Krieg also noch zu vermeiden?“
Raketen aus dem Gazastreifen „fliegen“ also, von niemandem abgeschossen, einfach so auf israelisches Territorium. Sie landen nicht, sie treffen nicht, sie zerstören nichts und verursachen keine Verletzungen. Zwar wissen die Israelis, dass dahinter die Hamas steckt, zwar musste sogar die Säuglingsstation des Krankenhauses von Be’er Scheva in Bunker verlegt werden, tausende Familien im Süden Israels sind traumatisiert – aber Kornelius erwähnt davon nichts.
Demgegenüber fliegt die israelische Luftwaffe nicht nur Angriffe, was sehr viel gefährlicher klingt, sondern „richtet auch große Zerstörungen“ an. All das betont Kornelius; allerdings sagt er nicht, was zerstört wurde: Waffendepots der Hamas und Kommandozentren.
„Seit März beobachten wir die Eskalation des Konfliktes, seitdem die Amerikaner nämlich ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt haben und seitdem Bewohner des Gazastreifens, angeführt von Hamas-Aktivisten, an der Grenze zum Teil auch sehr gewaltsam gegen Israel protestiert haben. Israel hat sich gewappnet, hat die Grenze verteidigt – den Grenzzaun, wie es immer nur hieß.“
Weil die Amerikaner „nämlich“ ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt haben, und seitdem Bewohner des Gazastreifens „auch sehr gewaltsam“ protestiert haben (gegen was eigentlich? Gewiss nicht wegen der Botschaft, sondern weil sie Israel stürmen wollen!), beobachtet Kornelius die „Eskalation“. Israel verteidigt die Grenze, „den Grenzzaun, wie es immer nur hieß“. Hätte Israel sich überrennen lassen sollen?
„Daraufhin hat die Hamas die Strategie verändert und mit Flugdrachen israelisches Territorium angegriffen. Es kam zu Buschfeuern, es kam zu einer Bedrohung und vor allem zu einer großen Unruhe innerhalb der israelischen Bevölkerung.“
Die Hamas „hat mit Flugdrachen israelisches Territorium angegriffen“. Interessante Formulierung. Solange da nur „Territorium“ angegriffen wird, kann man ja beruhigt sein. Offenbar handelt es sich um ein paar kahle Hügel in der Wüste. Also alles nicht weiter schlimm. Dass an den Flugdrachen Brandsätze hingen, vergaß Kornelius zu erwähnen. Tausende Quadratkilometer verbrannter Wälder und Weizenfelder, abgefackelte Naturschutzgebiete samt Bienenstöcken und hunderter brütender Vögel, die Schreie der Tiere über der brennenden Wüstenlandschaft, Raketenalarm im Minutentakt und die Angst der Bauern in den Kibbutzim sind wohl für ihn nicht erwähnenswert. Wer Kornelius zuhört, erhält den Eindruck: Die Bedrohung kam nur irgendwie, quasi aus heiterem Himmel, genauso wie die Unruhe der israelischen Bevölkerung im Süden, die seit Wochen keine Nacht mehr ruhig schlafen kann. Ebenso wenig erwähnenswert sind für Kornelius mit Drachen, Luftballons und gasgefüllten Kondomen eingeflogene Sprengsätze, die auf Kinderspielplätzen landen.
„Seit wenigen Wochen nun hat sich das Ganze auf die militärische Ebene verlagert. Raketen fliegen und die israelische Luftwaffe schießt dagegen. Die Frage ist eben nur, wie kann dieser Konflikt gestoppt werden.“
Jetzt hat sich alles auf die „militärische Ebene verlagert“? Seit wann ist der Gazastreifen ein anerkannter Staat mit einer stehenden Armee, also Militär? Und schon wieder „fliegen“ die Raketen, offenbar ohne, dass sie jemand zündet und auch ohne, dass sie landen. Wieder ist es nur die israelische Luftwaffe, die etwas tut: Sie „schießt dagegen“. Merke: Gefährlich ist nur Israel.
„Vermittler der Vereinten Nationen und aus Ägypten sind eigentlich gescheitert. Die Hamas signalisiert zwar immer wieder ihren Friedenswillen …“
Wo bitteschön, wann und mit welchen Worten hat die Hamas ihren „Friedenswillen“ bekundet? Kornelius müsste uns zumindest auf eine dieser Friedensbekundungen von Hamas aufmerksam machen – denn außer ihm scheint niemand diese gehört zu haben.
„… aber gleichzeitig möchte sie demonstrieren, dass sie Israel nicht das Recht zubilligt, alleine über die Regeln dieses Konfliktes zu bestimmen.“
Wie bitte? Ist es etwa bisher nicht die Hamas, die Raketen „fliegen“ lässt, jüngst sogar bis Be’er Scheva, und täglich – trotz eines angeblichen Waffenstillstandes – bis zu zehn Waldbrände verursacht? Sind das etwa keine „Regeln“?
„In Israel selbst gerät Premier Netanjahu unter Druck der Hardliner, die sich umgekehrt den Druck der Hamas nicht gefallen lassen will.“
Wer oder was ist eigentlich ein „Hardliner“? Niemand in Israel, weder Hardliner noch „Weicheier“, will sich dem Druck der Hamas beugen. Denn das hieße, kollektiv Selbstmord zu begehen.
„Beide Seiten wissen, dass ein Krieg die Probleme des Gazastreifens nicht lösen wird. Im Kern dieses jüngsten Konfliktes steht nämlich die Erkenntnis, dass dieses Fleckchen Land nicht bewohnbar und nicht regierbar ist – nicht unter den Konditionen, die Israel seit dem letzten Krieg 2014 aufgezwungen hat und immer stärker durchsetzt.“
Einer der schönsten Küstenstreifen am Mittelmeer, seit Jahrtausenden besiedelt, ist unbewohnbar? Und nicht regierbar? Was macht denn die Hamas, wenn sie nicht in Gaza regiert? Und wem hat Israel eigentlich Konditionen aufgezwungen? Falls Kornelius die Blockade meint, so ist nicht zu vergessen, dass diese schon kurz nach der Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007 kam. Kornelius versäumt auch zu erwähnen, dass die Hamas mit Attentaten die Schließung aller Warenübergänge erzwungen hat. So wie er nichts darüber sagt, wer jüngst die Gas- und Ölleitungen im (letzten offenen) Übergang Kerem Schalom verbrannt hat. Und wer kontrolliert eigentlich die Grenze im Süden? Liegt da nicht irgendwo Ägypten? Alles Konditionen, die Israel aufgezwungen hat?
„Wird es also zu einem wirklichen Krieg kommen? Die politische Vernunft sagt: Nein. Denn Israel hat kein Interesse, die Hamas wegzufegen und es am Ende mit einer noch radikaleren Gruppierung zu tun zu haben. Und auch die Hamas hat kein Interesse, ihre letzten Pfründe im Gazastreifen zu verlieren. Ob am Ende aber die politische Vernunft gewinnt, oder ob doch die Logik der Gewalt siegt, dass weiß im Nahen Osten niemand.“
„Krieg“ ist ein Fachbegriff, wobei stehende Armeen zweier Staaten mit ihren uniformierten Soldaten aufeinander schießen. Einen „wirklichen Krieg“ kann es also gar nicht geben. Oder meint der Sicherheitsfachmann Kornelius eine „Militäroperation“? In Israel steht ein „Wegfegen der Hamas“ nicht zur Debatte, sondern vielmehr eine erneute israelische Militärbesatzung, was zur Folge hätte, dass die Hamas und „radikalere Gruppen“ weggefegt würden. Doch jeder in Israel weiß, welch hoher Preis dafür gezahlt werden müßte, weshalb selbst die von Kornelius erwähnten „Hardliner“ davor zurückschrecken.
Ob die Hamas tatsächlich fürchtet, „ihre letzten Pfründe“ zu verlieren, ist eine gute Frage. Denn bei den letzten israelischen Militäroperationen von 2009, 2012 und 2014 hat sie nur dazugewonnen. Die kaputten Häuser lassen sich mit Milliardenspenden der Europäer wieder errichten. Und je mehr Tote es als „menschliche Schutzschilde“ gibt, desto mehr Anerkennung erhält die Hamas in der Welt und kann so ihr Terror-Regime weiter festigen. Es stärkt die Hamas auch bei ihrem Zwist mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah, wenn sie heldenhaft den bösen Zionisten die Stirn bietet und Widerstand leistet. Widerstand gegen ein „Besatzungsregime“ (trotz israelischem Rückzug aus Gaza 2005) goutieren und legitimieren sogar die Vereinten Nationen
Von wem erwartet Kornelius schließlich „politische Vernunft“ und was versteht er unter „Logik der Gewalt“? Das beantwortet er uns nicht.
Von: Ulrich W. Sahm
Eine Version dieses Artikels ist zuvor bei „Audiatur Online“ erschienen.