Die Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes hat Empörung und Unverständnis ausgelöst. Wie „üblich“ hagelte es in der arabischen Welt heftigste Kritik am Grundgesetz mit dem Titel: „Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes“, als ob in den arabischen Staaten Gleichberechtigung, Demokratie und sonstige Menschenrechte eine Selbstverständlichkeit wären.
Zwar dürfen in Saudi-Arabien neuerdings Frauen sogar ihr Auto steuern, müssen aber einen männlichen Begleiter in der Nähe haben. Und ausgerechnet jene arabischen Staaten, in denen es heute keinen einzigen Juden mehr gibt, weil sie in den 1950er Jahren allesamt vertrieben worden sind, bezichtigen Israel am lautesten der „Apartheid, schlimmer noch als Südafrika“.
Nicht viel besser ist es um die europäischen Medien bestellt. Die „Welt“ zum Beispiel hat unredigiert einen Bericht der französischen Nachrichten-Agentur AFP unter „Diskriminierung“ eingeordnet, der schon im Titel das Gesetz als „umstritten“ bezeichnet, ohne darzustellen, was überhaupt in dem Gesetzestext steht.
Genauso veröffentlichte „Radio Vatikan“ heftige Kritik an dem Gesetz, ohne wenigstens die kritisierten Passagen wörtlich zu zitieren. Erwähnt werden da amerikanisch-jüdische Organisationen wie AJC und ein amerikanischer Rabbiner der Reformjuden. Dass diese ihre eigenen Interessen verfolgen und keine überzeugende Interpreten israelischer Politik und Befindlichkeiten sind, ist selbstredend.
Die Skepsis gegenüber einem jüdischen Nationalstaat ist weder neu noch originell. Schon 1833 (kein Tippfehler!) meinte man im Großherzogtum Baden, dass ein Zusammenleben von Juden mit Andersgläubigen in einem jüdischen Nationalstaat unmöglich sei: „Wir Alle, und selbst Diejenigen, die die Emancipation der Juden vertheidigen, sind überzeugt, dass ein jüdischer Nationalstaat mit nicht jüdischen Glaubens- und Volksgenossen eine Unmöglichkeit wäre“ (Quelle: Landtags-Zeitung: Verhandlungen der badischen Stände im Jahre 1833).
Sind Staatssprachen wirklich so eindeutig?
In der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch als Amtssprachen auf Bundesebene festgeschrieben. Die Bundesverfassung legt die Sprachgebiete der Schweiz jedoch nicht fest. Artikel 70 Absatz 2 weist den Kantonen die Kompetenz zu, ihre Amtssprachen zu bestimmen. Ist die Schweiz dadurch automatisch demokratischer als ihre europäischen Nachbarn?
In Österreich ist die deutsche Sprache als offizielle Staatssprache in Artikel 8 der österreichischen Bundesverfassung festgeschrieben. Minderheiten wie die Kärntner Slowenen haben ihren eigenen Status. Müsste die „Welt“ jetzt nicht auch im Fall von Österreich von „Diskriminierung“ sprechen? In Deutschland ist man sich nicht sicher, ob man die deutsche Sprache als Staatssprache im Grundgesetz verankern sollte. Wenn also jeder Staat in Europa die „offizielle Sprache“ auf seine Weise regelt, ohne dass das den Nachbarn stört, warum mischt man sich dann im Fall von Israel ein?
Im deutschen Grundgesetz ist bislang nur die Farbe der Bundesflagge – Schwarz-Rot-Gold – und Berlin als Hauptstadt festgelegt. Als die CDU im Jahre 2008 auf ihrem Parteitag ein Bekenntnis zur deutschen Sprache ins Grundgesetz aufnehmen lassen wollte, waren nicht nur SPD und Grüne dagegen, sondern auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die türkische Gemeinde reagierte alarmiert. „Es ist schwierig nachzuvollziehen, warum auf einmal die Notwendigkeit gesehen wird, die deutsche Sprache ins Grundgesetz aufzunehmen“, erklärte der Vorsitzende Kenat Kolat.
Lange zuvor hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gefordert, Deutsch als Landessprache im Grundgesetz zu verankern. Lammert hat sich nicht durchsetzen können. Fakt ist: Die deutsche Sprache hat in Deutschland bis heute nicht Verfassungsrang.
In dem israelischen Gesetz steht unter Punkt 4a, dass „Hebräisch die Landessprache“ sei. Aber schon in Punkt 4b wird betont: „Die arabische Sprache hat einen besonderen Status im Staat.“ Eine Regelung der Verwendung der arabischen Sprache in staatlichen Einrichtungen und vor ihnen wird mit (weiteren) Gesetzen geregelt. Von einer Abschaffung des Arabischen als Sprache kann also keine Rede sein, zumal es unter Punkt 4c noch heißt: „Dieser Paragraf berührt in keiner Weise den tatsächlichen Status der arabischen Sprache vor der Wirksamkeit dieses Grundgesetzes.“
Ruhetage sind nirgends geregelt. Oder?
Unvorstellbar, dass in einem weltlichen Staat wie Deutschland der christliche Sonntag per Gesetz zum wöchentlichen Ruhetag erklärt würde, wie jetzt in Israel der Sabbat – oder?
Während in Deutschland und anderen europäischen Staaten auch christliche Feiertage im Gesetz stehen und im Prinzip für alle gelten, ungeachtet der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, wird im neuen israelischen Grundgesetz der wöchentliche Ruhetag in Israel relativiert: „Der Schabbat und die Feste Israels sind die etablierten Tage der Ruhe im Staat; Nicht-Juden haben das Recht, an ihren Ruhetagen und Festen zu ruhen; Details zu diesem Thema werden gesetzlich festgelegt.“ In christlichen oder muslimischen Ortschaften wie Nazareth oder Ostjerusalem und selbst in multi-ethnischen Städten wie Haifa oder Be’er Scheva dürften auch weiterhin am Schabbat die öffentlichen Busse verkehren.
Nur in Israel gibt es „stille Tage“. Oder?
In Deutschland darf man doch an Karfreitag, am Totensonntag und am Volkstrauertag öffentlich tanzen – oder? Wie kommen jetzt also die Israelis dazu, jüdische Feste als gesetzliche Feiertage festzulegen? Dabei heißt es im neuen Gesetz nur: „Die Feste Israels sind die etablierten Tage der Ruhe im Staat.“
Etabliert bedeutet noch lange nicht, dass die Bäckerei Abulafia in Jaffa während des Pessachfestes keine Fladenbrote mehr an die überwiegend ungläubigen jüdischen Kunden verkaufen darf. Und kein israelischer Polizist dürfte jemanden verhaften, auspeitschen oder sonstig bestrafen, wenn er am Versöhnungstag Jom Kippur in seinem Garten eine Zigarette raucht oder ein Butterbrot isst. Aus ziviler Rücksicht auf die Nachbarn wäre es jedoch angebracht, an jenem Tag nicht in seinem Vorgarten oder in einem öffentlichen Park zu grillen.
Kann jeder wohnen, wo er will?
Besonders umstritten war ein inzwischen gestrichener Passus, wonach per Gesetz gewisse Ortschaften ihre ethnische oder religiöse Ausprägung bewahren dürften. Die arabischen Abgeordneten zeterten, das sei Rassismus und ein Ende der Demokratie in Israel. Stimmt das? Bisher konnten israelische Araber in Tel Aviv, in rein „jüdischen Vierteln“ in Jerusalem und sogar in Siedlungen einziehen. Doch wie viele Juden konnten sich in rein arabischen Dörfern niederlassen? Kein „Fremder“ (Jude oder Moslem) würde zudem freiwillig in eine ultra-orthodoxe Gegend ziehen, wo Radio und Fernsehen verpönt sind und wo am Schabbat die Straßen für Autoverkehr abgesperrt werden.
Kann man ultra-orthodoxen Juden verwehren, in separaten Neubauvierteln zu leben, wenn gleichzeitig Beduinen, Drusen und andere ethnische Gruppen „unter sich“ bleiben wollen und mit sozialem Druck den Zuzug „Anderer“ verhindern? Glücklich überwunden ist in Europa die uralte Sitte, Juden in Gettos zu pferchen. Aber könnten sich heute Berliner Juden in Neukölln, Wedding oder Kreuzberg schadlos niederlassen?
Manche Kritiker hatten behauptet, dass nun die „Siedlungspolitik“ zu einem nationalen Ziel erhoben worden sei. Das ist aus mehreren Gründen falsch. Das Grundgesetz gilt nicht in den „besetzten“ Gebieten, die weiterhin unter militärischer Verwaltung stehen, solange Israel sie nicht annektiert hat, also den formalen Akt der Ausweitung seiner zivilen Gesetze auf jene Territorien vollzogen hat. Zudem wird im hebräischen Original unter Punkt 7 der Begriff „Hitjaschvut“ (Besiedlung) verwendet, während bei Siedlungen in den besetzten Gebieten der Begriff „Hitnachlut“ üblich ist.
Sinn und Unsinn des Nationalstaatsgesetz
Seit 2011 strebten Abgeordnete der Knesset ein Grundgesetz an, in dem Israel als jüdischer Nationalstaat festgeschrieben wird. Ebenso glaubten sie, dass die Staatssymbole wie Wappen, Flagge und Landessprache in einem Grundgesetz verankert werden müssten. Zweck der Übung war, mit einem mehrheitlich verabschiedeten Gesetz die internationale Gemeinschaft von Israel als jüdischem Nationalstaat besser überzeugen zu können.
Genau das Gegenteil trat jetzt ein: Antisemitische und andere Kritiker Israels hielten weiter an ihrer Vorstellung fest, dass die Juden nur eine Religion und kein Volk oder gar eine Nation seien.
Ein ähnliches Eigentor wie heute mit dem Nationalstaatsgesetz schossen die Israelis schon einmal 1980 mit ihrem Grundgesetz zu Jerusalem. Schon 1950 war Jerusalem zur Hauptstadt erklärt worden und 1967, unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg, hatte Israel mit der administrativen Erweiterung seiner Staatsgesetze die Annexion von Ostjerusalem perfekt gemacht. Doch rechtsgerichtete Abgeordnete wie Ge’ula Cohen glaubten, das alles in ein Grundgesetz gießen zu müssen. Tatsache war jedoch, dass dadurch mehrere Staaten ihre Botschaften aus Jerusalem abzogen.
Von: Ulrich W. Sahm