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In der Heimat angekommen

Sein Leben lang war er Zionist, doch erst mit 80 Jahren wanderte Walter Bingham nach Israel ein. In seinem früheren Leben erhielt er eine Tapferkeitsauszeichnung für militärische Verdienste, arbeitete als Model und Schauspieler. Hauptberuflich war er Journalist und erhielt kürzlich, mit 93 Jahren, einen Eintrag im „Guinness­-Buch der Rekorde“
Neben den zahlreichen Abzeichen ist ganz links auch die britische Militärmedaille MM zu sehen

Ob Israelis, Deutsche oder Briten – wenn Walter Bingham vor jungen Menschen erzählt, hören alle gespannt zu. Geboren wurde er 1924 als Wolfgang Billig in Karlsruhe: „Billig hat nichts mit dem deutschen Wort zu tun. Der Name kommt aus Galizien.“ Was genau er bedeutet, weiß Bingham nicht. „Mit dem Kindertransport bin ich im Alter von fünfzehneinhalb zusammen mit 7.500 anderen Kindern nach England geschickt worden.“ Das war einen Monat vor Kriegsbeginn.

Dort nahm er an einem zionistischen Landwirtschaftsprojekt teil, das Jugendliche auf ihre Ausreise ins britische Mandatsgebiet Palästina vorbereiten sollte. Weil er einen polnischen Pass hatte, wurde er mit 18 Jahren in den Armeedienst eingezogen, hatte aber die Möglichkeit, zur britischen Armee zu wechseln, wo er als Krankenwagenfahrer eingesetzt wurde. In dieser Zeit änderte er seinen Namen. 1944 war er Teil der Invasion in die Normandie und war inmitten der Kämpfe einer der Frontkämpfer.

Für seine Tapferkeit unter Beschuss erhielt er die britische Auszeichnung Militärische Medaille (MM), die er bis heute stolz am Revers trägt. Überreicht wurde sie ihm von Generalfeldmarschall Bernard Montgomery. Weil er fließend Deutsch sprach, bat er um eine Versetzung nach Deutschland. „Dort konnte ich mit (dem Außenminister der Nazis Joachim von) Ribbentrop sprechen. Er sah gut aus und sprach ausgezeichnetes Englisch. Er besaß die Frechheit, zu sagen, dass er über die Vernichtung der Juden nie Bescheid gewusst habe.“

Vor allem Journalist

Später studierte Bingham Politikwissenschaft in London und arbeitete unter anderem als Model und Schauspieler, etwa in einer Nebenrolle der Filmreihe „Harry Potter“.

Doch vor allem war Bingham Journalist. In den 60er Jahren fing er beim Radio an. Nachdem er für ein paar Lokalzeitungen geschrieben hatte, moderierte er jüdische Radioprogramme bei Sendern in London. „Als die hörten, dass ich vorhatte, nach Israel auszuwandern, baten sie mich um ein Format, in dem ich die Herausforderungen des Alija-Prozesses beschreiben sollte.“ Daraus ist die Sendereihe „Die Walter-Bingham-Akte“ entstanden. Eine weitere Sendereihe mit dem Namen „Walters Welt“ gestaltet er für den englischsprachigen Internetradiosender „Arutz Scheva“. Das fast einstündige Programm wird wöchentlich ausgestrahlt. Fast 1.000 Folgen hat er für beide Radiosendungen produziert, die sich mit Politik, Sicherheit, Kultur, Bildung und allgemeinen Themen auseinandersetzen.

Beim Rundfunk habe er Anpassungsfähigkeit, den Wert der Recherche und die Fähigkeit, notfalls aggressiv zu sein, gelernt. „Man muss seinen Stil anpassen. Manchmal führe ich freundliche Interviews, die verlaufen ohne Zwischenfälle. Es gibt aber auch konfrontative Interviews, die sind oft sehr aufregend, ich muss aggressiv sein.“

Er nennt ein Beispiel: „Einst interviewte ich den 13. anglikanischen Bischof in Jerusalem und den dritten palästinensischen Bischof, der einen gerechten Frieden sehr betonte. Damit hatte er aber vor allem einen palästinensischen Staat für palästinensische Araber im Sinn. Als ich daraus schloss, dass er Israel hasse, drohte er mir mit einer Klage. Ein freundlicher oder aggressiver Verlauf – für jedes Interview gilt: Wenn sie dich durch den Vordereingang hinauswerfen, musst du durch die Hintertür zu deinen Fragen zurückkommen.“

Hofft auf Interview mit Rivlin

Im Juni wurde Bingham von der Jury des „Guinness-Buch der Rekorde“ darüber informiert, dass er der älteste praktizierende Moderator von Radiotalksendungen weltweit sei. Die Bestätigung darüber habe er bereits in digitaler Form. „Das Zertifikat kommt mit der Schneckenpost, es wird wohl noch einige Wochen dauern.“

Als Inhaber des neuen Titels als ältester Radiojournalist hofft er auf ein Interview mit dem israelischen Präsidenten Reuven Rivlin. Eine der Fragen, die er ihm stellen würde, wäre, wie es wohl sei, sich mit vielen Staatsführern zu treffen, die mehr oder weniger vertraut mit der Lage in Israel seien: „Einerseits repräsentieren Sie die Interessen des Staates Israel, andererseits dürfen Sie als neutrales Staatsoberhaupt nicht wirklich die politischen Differenzen ansprechen. Ist es nicht schwer für Sie, sich auf der politischen Bühne neutral zu verhalten, zumal in Ihrer früheren Funktion als Knessetsprecher und mit Ihrem Hintergrund als Parteimitglied?“

Endlich in Israel angekommen

An die Einwanderung nach Israel dachte er schon in jungen Jahren, doch die verzögerte sich aus verschiedenen Gründen. „Es war immer mein Traum, in Israel zu leben. Viele meiner Verwandten waren in den dreißiger Jahren ausgewandert. 1936 gaben mir die Briten keine Einreiseerlaubnis. Später wollte der jüdische Untergrund in Palästina, dass ich um die Unabhängigkeit kämpfe. Doch ich wollte nicht nochmal zur Armee, ich hatte genug vom Krieg.“ Später wollte seine Frau, eine Jüdin aus Österreich, nicht mit. Nach ihrem Tod „merkte ich, dass ich älter werde und außer meinem Enkel niemanden in England hatte. Ihm wollte ich nicht zur Last fallen.“

Walter Bingham zeigt Fotos aus Zeiten, in denen er schauspielerte und modelte. Beruflich und privat blickt er auf viele Abenteuer zurück. Foto: Israelnetz/mh
Walter Bingham zeigt Fotos aus Zeiten, in denen er schauspielerte und modelte. Beruflich und privat blickt er auf viele Abenteuer zurück.

Bingham beschloss, zu seiner einzigen Tochter nach Kapstadt zu ziehen, doch diese sagte: „Papa, ich mache Alija.“ Das tat sie 2002 tatsächlich und nur zwei Jahre später folgte ihr der zweifache Urgroßvater aus London: „Im Alter von 80 Jahren war ich endlich angekommen“, erzählt der Brite. Schnell hatte er ein Heimatgefühl, wie er es nie zuvor verspürt hatte: „Wo hätte ich denn vorher eine Heimat haben sollen? Unter Hitler habe ich sicher keine Wurzeln entwickelt, in England war ich wie festgehalten und habe mich auch da nie zugehörig gefühlt.“

Ob er den Schritt des Umzugs nach Israel bereut habe? Das nicht, doch eines sei ihm bis heute schwer: „Ich hatte keine Zeit zum Hebräischlernen. Mein ganzes Leben bin ich Kommunikator gewesen. Und nun kann ich mich in meinem eigenen Land nur in fremden Sprachen verständigen. Das tut weh. Doch das Gefühl der Heimat gleicht das wieder aus.“ Er betont: „Heute kann ich nicht länger als eine Woche weg sein, ohne dass es mich nach Jerusalem, nach Hause zieht.“

Erbstücke aus Deutschland

Was ihm Deutschland bedeutet? „Für meinen Vater Sigmund gibt es heute einen Stolperstein in Karlsruhe. Da, wo wir gewohnt haben, in der Kaiserstraße 211.“ Das gefällt ihm, auch wenn er es seltsam findet, dass darauf steht: „ausgewiesen“.

Bingham erinnert sich an seine Kindheit. Einzelne Kristallgläser aus dem Haus seiner Großeltern stehen in einer Glasvitrine in der Jerusalemer Wohnung: „Die sind aus Deutschland. Ebenso wie die silbernen Kidduschbecher. Als Adolf Hitler 1936 zum Wahlkampf nach Karlsruhe kam, konnte ich ihn von unserem Balkon aus sehen.“ Deutsch spricht er bis heute fließend. Als er vor deutschen Schülern sprechen soll, ist ihm Englisch dann aber doch lieber „Wer weiß, ob ich auf Deutsch alles so gut ausdrücken kann wie auf Englisch?“

Bis zum Schluss am Mikrofon

Alter werde mit der Zeit relativ. Auch die Wahrnehmung von Alter verändere sich im Lauf der Zeiten: „Früher galt eine Frau mit 45 Jahren als verbraucht. Das sieht man daran, dass die Nazis den Juden verboten, deutsche Frauen unter 45 Jahren als Dienstmädchen zu beschäftigen. Heute steht eine Frau in diesem Alter mitten im Leben und gilt als attraktiv.“ Bingham selbst fühlt sich, wie er sagt, jünger, als er ist. Doch die vielen Hügel in seiner Stadt erschwerten mehr und mehr das Laufen: „In Jerusalem führen alle Straßen bergauf, und jede Woche werden sie steiler.“

Wer Bingham anruft, muss damit rechnen, am Telefon abgewürgt zu werden: „Mein Interviewpartner kommt gerade zur Tür rein. Ich rufe später zurück.“ Unter ausländischen Journalisten in Israel ist Bingham heute gut bekannt: Wenn er zu Pressekonferenzen kommt, sitzt er in der ersten Reihe, ausgerüstet mit seinem Aufnahmegerät und dem großen Mikrofon. Auffällig ist auch seine Baskenmütze, die er häufig über der gehäkelten Kippa trägt.

„Bis zu meinem letzten Tag werde ich mein Mikrofon in der Hand haben“, schreibt der vitale Mann einer deutschen Lehrerin, die mit ihm einen Vortrag vor ihren Schülern vereinbarte. „Ich bat meine Tochter bereits darum, mir ein Mikrofon mit in mein Grab zu legen, sodass ich der erste wäre, der berichten könnte, wie es ‚auf der anderen Seite‘ ist.“ Abgeklärt fügt Bingham hinzu: „Aber das wird sie nicht tun.“

Von: mh

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