Nach jüdischer Tradition beginnt die Geschichte des Tempelbergs mit der Schöpfung. Demnach schuf Gott die Welt von der Spitze des Tempelbergs aus. Außerdem lokalisiert das Judentum hier den Berg Moria, wo Abraham beinahe seinen Sohn Isaak geopfert haben soll. Der biblischen Überlieferung zufolge errichtete David Gott hier einen Altar. Sein Sohn Salomo erbaute Gott den Tempel, der sich zum zentralen Heiligtum des Judentums entwickelte.
Jerusalem wurde 587/6 vor Christus durch den babylonischen König Nebukadnezzar II. zerstört. Nach dem Ende des babylonischen Exils begann 538 vor Christus der schleppende Wiederaufbau. König Herodes der Große (73–4 vor Christus) initialisierte eine Renovierungskampagne des Tempels und ließ ein gigantisches, rund 500 mal 300 Meter großes Plateau um den Tempel errichten. „Wer den Bau des Herodes nicht gesehen hat, hat nie ein prachtvolles Gebäude gesehen“, gestand ihm die rabbinische Literatur später anerkennend zu.
Doch dem herodianischen Tempel war keine lange Existenz vergönnt. Nach einem Aufstand der Juden gegen die Römer eroberten diese 70 nach Christus Jerusalem und legten die Stadt mitsamt dem Tempel in Schutt und Asche. Nur die massiven Umfassungs- und Rückhaltemauern des Plateaus überdauerten die Zeit bis heute.
Der muslimische „Haram asch-Scharif“
Unter den Umayyaden-Kalifen entstanden auf dem Tempelberg der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee Ende des 7. und Anfang des 8. Jahrhunderts. Der Felsendom, das älteste intakte sakrale Bauwerk des Islam, wurde wahrscheinlich an der Stelle errichtet, an der sich einst der jüdische Tempel beziehungsweise Opferaltar befunden hatte. Die muslimische Tradition verbindet hiermit die Nachtreise Muhammads auf einem geflügelten Reittier zur „entferntesten“ (Al-Aksa) Kultstätte, und die Himmelfahrt des Propheten. Der „Haram asch-Scharif“, das „ehrwürdige Heiligtum“, gilt als drittheiligste Stätte im Islam, nach Mekka und Medina.
Bereits im Mittelalter bildete sich die jüdische Tradition heraus, an der westlichen Umfassungsmauer, der Klagemauer, zu beten, da diese am nächsten am ehemals Allerheiligsten des Tempels lag. Im 16. Jahrhundert erlaubte der osmanische Sultan Suleiman der Prächtige den Juden, an einem 3 Meter breiten und 20 Meter langen Stück der Mauer zu beten. Die Klagemauer entwickelte sich zum heiligsten (zugänglichen) Ort im Judentum, da der Tempelberg aufgrund der muslimischen sakralen Nutzung nicht mehr zur Verfügung stand.
Im Ersten Weltkrieg eroberten die Briten Palästina. Sie griffen dabei kaum in die muslimische Kontrolle des Tempelbergs ein und gestanden dem Wakf, einer islamischen Institution, die den Haram verwaltet, weitreichende Autonomierechte zu. Doch in den 1920er Jahren entwickelte sich die Klagemauer zu einem zentralen Konfliktherd zwischen Juden und Arabern.
Jerusalem – geteilt und wiedervereinigt
Im israelischen Unabhängigkeitskrieg (1948/49) besetzte Jordanien das Westjordanland mit Ostjerusalem und der Altstadt. Den Israelis blieb der Zugang zur Klagemauer verwehrt. Die Könige von Jordanien verstanden sich fortan als Wächter des Tempelbergs und stellen ihren Einfluss bis heute sicher, indem sie wichtige Posten im Wakf mit Gefolgsleuten besetzten. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 schlugen die israelischen Streitkräfte Syrien, Ägypten und Jordanien und eroberten unter anderem Ostjerusalem. Die Juden hatten nun erstmals wieder Zugang zum Tempelberg und der Klagemauer. Verteidigungsminister Mosche Dajan traf sich mit Vertretern des Wakf und diktierte diesen die neuen Bedingungen, die als der sogenannte Status quo in die Geschichte eingehen sollten: Der Wakf wird weiterhin den Haram asch-Scharif eigenständig verwalten.
Israels Polizei ist für die Sicherheit verantwortlich.
Nicht-Muslimen ist es verboten, auf dem Tempelberg zu beten, aber sie dürfen ihn besuchen. Dajan wollte dadurch verhindern, dass der Konflikt zwischen Israel und den Arabern eine religiöse Komponente bekam. Zusätzlich verbot Israels Oberrabbinat religiösen Juden, den Tempelberg zu betreten. Der Hintergrund: Da nicht unzweifelhaft bekannt ist, wo sich das Allerheiligste des Tempels exakt befand, könnten jüdische Besucher auf dem Tempelberg versehentlich über das Allerheiligste laufen – was ein Sakrileg wäre. Daher ist es am sichersten, den gesamten Tempelberg zu meiden.
Israel annektierte Ostjerusalem de facto unmittelbar nach dem Krieg. De jure vollzog Israel die Annexion mit dem Jerusalem-Gesetz von 1980, was freilich international nicht anerkannt wird.
Umstrittener Westmauer-Tunnel
In den 1970er/80er Jahren führte das israelische Religionsministerium das „Westmauer-Tunnel-Projekt“ durch – ein 320 Meter langer Tunnel entlang der Westmauer des Tempelbergs unterhalb des muslimischen Viertels in der Jerusalemer Altstadt, um archäologische Untersuchungen zu ermöglichen. Die Grabungsarbeiten dauerten mehr als zehn Jahre und verliefen oft ohne Zustimmung der Besitzer darüberliegender Gebäude. Dies zog erhebliche Proteste nach sich. Die offizielle Eröffnung im September 1996 führte zu blutigen Ausschreitungen.
Die Unruhen trugen auch zum Aufstieg der Islamischen Bewegung unter der Führung von Scheich Raed Salah bei, eine islamistische Organisation israelischer Araber, die der Muslimbruderschaft nahesteht. Während die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) nicht offen in Jerusalem operieren kann, können sich Salah und seine Anhänger als israelische Staatsbürger in der Stadt frei bewegen. So stieß die Bewegung in ein Vakuum auf dem Tempelberg. Sie trieb in erster Linie umfassende Umbauarbeiten im Untergrund des Tempelbergs voran. Die sogenannten Ställe Salomos – ein 500 Quadratmeter großes unterirdisches Säulengewölbe im Südosten des Plateaus – sollten zu einer Moschee ausgebaut werden. Um einen breiten Zugang zur Untergrundmoschee zu gewähren, fanden großflächige Erdarbeiten ohne archäologische Aufsicht statt. Die dadurch unwiederbringlich verlorengegangenen Erkenntnisse sind kaum abzuschätzen.
Im Sommer 2000 scheiterten die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästinensern unter Vermittlung von US-Präsident Bill Clinton. In dieser angespannten Situation besuchte der damalige israelische Oppositionsführer Ariel Scharon Ende September 2000 den Tempelberg. Die folgenden Ausschreitungen werden als Auslöser der „Zweiten Intifada“ betrachtet. Bis 2003 war Nicht-Muslimen der Besuch des Tempelbergs untersagt, dies wurde mittlerweile aufgehoben. Doch während das Betreten des Inneren der Al-Aksa-Moschee und des Felsendoms vor der sogenannten Zweiten Intifada Nicht-Muslimen gestattet war, bedarf es heute einer Sondergenehmigung des Wakf.
„Al-Aksa in Gefahr“
Seit 1967 ist auf arabischer Seite die Tendenz zu beobachten, die jüdische Verbindung zum Tempelberg zu leugnen. Bei Führungen durch Mitarbeiter des Wakf wird die Existenz eines jüdischen Tempels rundweg abgestritten. Der Großmufti erklärte 2015, dass niemals ein jüdischer Tempel auf dem Areal existiert haben könne, weil dort seit 30.000 Jahren eine Moschee stehe.
Mit den Ausschreitungen im September 1996 begann die Islamische Bewegung zudem den Slogan „Al-Aksa ist in Gefahr“ zu prägen. Sie behauptete, dass Israel den Haram zerstören wolle. Der Wakf und die PA nutzen diese absurden Vorwürfe bewusst, um die palästinensische Bevölkerung gegen Israel aufzuhetzen. Mittlerweile sind diese Verschwörungstheorien tief in der palästinensischen Gesellschaft verankert. Schon im Schulalter ist das Narrativ fest im Bewusstsein eingebrannt.
Aufgrund dessen ist es nicht verwunderlich, dass die irrsinnigen Vorwürfe gegen Israel eine wesentliche Rolle als Auslöser und Motivation für die Attentate sogenannter „einsamer Wölfe“ spielen. Auch die jüngsten Ereignisse sind von dieser bewusst aufgeheizten and angestachelten Atmosphäre geprägt.
Nach dem Terroranschlag Mitte Juli riegelte Israel den Haram asch-Scharif vollständig ab; das Freitagsgebet wurde untersagt. Israels Führung entschied, Metalldetektoren an den Eingängen zu installieren. Eine solche Maßnahme ist seit Jahren beim Zugang für Nicht-Muslime zum Tempelberg und zur Klagemauer für Besucher jedweder Religion und Herkunft üblich. Dennoch entzündete sich daran der unbändige Zorn vieler Araber; es kam zu gewalttätigen Straßenschlachten und einem sinnlosen Massaker an einer israelischen Familie in der Siedlung Halamisch. Kurz darauf wurden die Detektoren entfernt. Solange die Hetze gegen Israel weitergeht, bleibt die Lage auf dem Tempelberg prekär.
Marcel Serr ist Politikwissenschaftler und Historiker. Von 2012 bis März 2017 lebte und arbeitete er in Jerusalem – unter anderem als wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der israelischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der Militärgeschichte des Nahen Ostens.
Marcel Serr