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Europas „besetzte Gebiete“

Europa möchte im Nahen Osten für Ordnung sorgen und hat doch selbst offene Gebietsstreitigkeiten. Ein großer Aufreger ist für viele europäische Politiker das in Israel jüngst beschlossene Regelungsgesetz zu den Siedlungen. Doch was steht eigentlich drin im neuen Gesetz? Und wer bestimmt, was Annexion ist? Eine Analyse von Ulrich W. Sahm
Die Falklandinseln im südlichen Atlantik gehören zu Großbritannien, werden seit 1833 aber von Argentinien beansprucht

Die Europäische Union ist weit davon entfernt, im eigenen Haus für Ordnung zu sorgen. Man empört sich lieber über Israel. Das Regelungsgesetz, von der Knesset mit 60 zu 52 angenommen, hat bei der UNO und in der EU große Proteste provoziert. Das Gesetz muss noch vom Obersten Gericht, was einem Verfassungsgericht entspricht, abgesegnet werden. Die Chance ist groß, dass es abgelehnt wird. Doch Europa empört sich schon über „Legalisierung von illegalen Außenposten“ und spricht von „Vorbereitung für eine Annexion des Westjordanlandes“.

Erst nach dem Sechstagekrieg besannen sich die UNO und die Völkergemeinschaft darauf, dass es „illegal“ sei, fremdes Land durch Krieg zu erobern und zu behalten – vorangegangene Besatzungen sind kein Thema. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Einige Beispiele zu den „besetzten Gebieten“ europäischer Staaten hat Michael Freund in der Tageszeitung „Jerusalem Post“ geliefert, hier ergänzt um die deutschen Ostgebiete, Südtirol und Zypern.

Korsika

Die Mittelmeerinsel wurde 1768 erobert, doch viele Korsen wollen auch nach 250 Jahren französischer Besatzung mehr Autonomie und sogar Unabhängigkeit. Korsen werfen Paris vor, ihre Inseln zunehmend mit Sprache und Kultur zu „franzisieren“. Doch die Korsen finden kein Gehör in der EU. Stattdessen beklagt man dort gemeinsam mit der arabischen Welt die „Judaisierung“ Jerusalems.

Katalonien

Katalonier haben im Gegensatz zu Palästinensern eine eigene Kultur und eine eigene Sprache. Sie waren im 17. Jahrhundert sogar ein eigener Staat. Doch sie sind nach wie vor „besetzt von Spanien“ – auch hierzu gibt es keine UN-Resolution.

Südtirol

Südtirol wurde 1919 im Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochen, obwohl dies dem von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker widersprach. Mit der Machtergreifung der Faschisten 1922 wurde das Land gezielt italienisiert, die deutsche und die ladinische Sprache wurden verboten. Insbesondere in Bozen wurde gezielt italienischsprachige Bevölkerung angesiedelt. Kein Protest europäischer Außenminister gegen Italien.

Falklandinseln

Vor 35 Jahren schickten die Briten eine Flotte mit über 100 Schiffen in den südlichen Atlantik, um entsprechend ihrer kolonialistischen Ideologie die Falklandinseln von den Argentiniern zurückzuerobern. Das störte weniger als jüdischer Hausbau in Ostjerusalem.

Antarktis

2,7 Millionen Quadratkilometer in der Antarktis bis zum Südpol wurden von Norwegen beschlagnahmt. Einzige Legitimation: Sie hätten das Land als erste entdeckt. Dass 1.500 Jahre vor den Arabern und vor der Erfindung des Islam Israeliten beziehungsweise Juden im Westjordanland gelebt haben, interessiert in der UNO niemanden.

Zypern

Zypern wurde 1878 unter britische Verwaltung gestellt und 1914 von den Briten annektiert. Erst 1960 wurde der zu Europa gehörenden Insel die Unabhängigkeit gewährt. 1974 veranstalteten griechische Nationalisten einen coup d’état, was die türkische Invasion von Nordzypern provozierte. 150.000 griechische Zyprioten und 50.000 Türken wurden vertrieben. Seitdem ist die Insel zweigeteilt, während 1983 im nördlichen Teil eine türkisch-zypriotische Republik ausgerufen worden ist. Die Türkei festigt mit der Umsiedlung von Türken und mit einer „Siedlungspolitik“ ihren Zugriff auf Nordzypern. Bislang ist noch nicht einmal eine Warenkennzeichnung angedacht, wie zu Produkten aus „illegalen jüdischen Siedlungen“ im Westjordanland oder in Ostjerusalem.

Gibraltar

Gibraltar ist eine britische Kolonie auf spanischem Gebiet.

Ceuta und Mellila

Ceuta und Mellila sind spanische „Enklaven“ im Norden Marokkos. 2002 gab es fast Krieg zwischen Marokko und Spanien wegen eines Felsbrockens und Ziegen im Mittelmeer, der Petersilieninsel.

Territoriale Verschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Königsberg, Danzig, Schlesien, das Sudetenland und andere Gebiete waren einmal deutsch. Deutschland hatte den Weltkrieg angezettelt und verloren. Als „Strafe“ dafür wurden Millionen Deutsche aus diesen „Ostgebieten“ vertrieben und das Land unter Polen und der Sowjetunion aufgeteilt. Dass es sich bei den Gebietsverlusten der arabischen Staaten ausnahmslos um die Folgen von ebenso verlorenen Angriffskriegen handelt, wird von den UN genauso wenig thematisiert wie die Frage, warum es offenbar für Schlesier ein anderes Völkerrecht geben soll als für Palästinenser.

Was steht wirklich in dem neuen Gesetz?

Eigentumsrechte sind in Nahost oftmals nicht schriftlich fixiert worden. Oder sie wurden im osmanischen Reich anders definiert als unter britischer Besatzung. Das neue Gesetz der Knesset sieht eine angemessene Entschädigung an Palästinenser vor, deren Grundstücke unwissend für den Bau von Siedlungswohnungen verwendet worden sind. Die betroffenen palästinensischen Grundbesitzer müssen vor Gericht nachweisen, dass sie die Eigentümer sind. Es geht dabei nicht um bewusste Enteignung durch private Hausbauer, die in Israel jetzt schon klar verboten ist und weiterhin verboten bleibt, sondern lediglich darum, unbillige Härten zu vermeiden. Am ehesten lässt sich das neue Gesetz noch mit Artikel 14 des Deutschen Grundgesetzes vergleichen, auf den sich die öffentliche Hand beim Autobahnbau oder private Energiekonzerne im Braunkohletagebau berufen können. Fälschlich wurde berichtet, dass Israel zahlreiche „neue Siedlungen“ plane. In Wirklichkeit geht es nur um Wohnungen und Häuser in bestehenden Siedlungsblöcken.

Wer bestimmt, was eine Annexion ist?

Eine Annexion ist ein rein juristischer Schritt, der keinerlei „Vorbereitung“ bedarf und schon gar nicht Wohnungsbau in Siedlungen. Das hat Israel 1967 gezeigt, unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg, als es Jerusalems Stadtgrenzen erweiterte und das frisch von Jordanien eroberte Ost-Jerusalem annektierte, ohne dass dort auch nur ein einziger Israeli oder Jude gewohnt hätte. Alle Juden waren 1948 dort von den Jordaniern vertrieben worden, das Gebiet war quasi „ethnisch gesäubert“ worden.

Hierzu muss festgestellt werden, dass Jordanien das Westjordanland und Ostjerusalem 1949 durch Krieg gewonnen und später völkerrechtswidrig annektiert hat. Dieses Gebiet hatte zuvor zum osmanischen Reich gehört und war dann Teil des britischen Mandatsgebiets Palästina. Es gibt dort seitdem keinen anerkannten Souverän. König Hussein von Jordanien hatte nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Israel gegenüber Premierminister Jitzhak Rabin „bereut“, 1967 auf die israelische Armee geschossen und so den israelischen Gegenangriff selber provoziert zu haben, mit der Folge, Jerusalem und das Westjordanland an Israel verloren zu haben. Die palästinensische Sprecherin Hanan Aschrawi erklärte in einem Interview (mit diesem Korrespondenten) dass es die Palästinenser erst seit 1968 gebe. Deshalb könne niemand ihnen vorwerfen, einen Krieg (etwa 1948) gegen Israel angezettelt und in der Folge verloren zu haben. Sie hätten daher ein volles Recht, ganz Palästina für sich zu beanspruchen.

Weil der juristische Status des Westjordanlandes unklar ist und das Gebiet zu keinem völkerrechtlich anerkannten Staat gehört, herrschen die Israelis dort bis heute mit einer „Militärverwaltung“. Während Israel sich nur Jerusalem einverleibt (annektiert) hat, gilt das Westjordanland also politisch und rechtlich weiterhin als „besetztes Gebiet“. Das Völkerrecht könne jedoch nach israelischer Auffassung nicht wirklich angewandt werden, denn „Besatzung“ bedeute, dass die Territorien einem rechtmäßigen Souverän gehörten.

Als „Palästinensergebiet“ kann das Westjordanland auch nicht bezeichnet werden. Denn Israel hat mit den Osloer Verträgen den Palästinensern nur ein begrenztes Gebiet rund um die großen Städte zwecks Einrichtung einer selbstverwalteten Autonomie übergeben. Der Rest ist weiterhin „umstritten“ und steht unter israelischer Militärverwaltung.

Warum die Europäer in Nahost Ordnung schaffen wollen, während in Europa vieles ungeklärt ist, ist nicht nachvollziehbar.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.audiatur-online.ch.

Ulrich W. Sahm

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