Es gibt „einsame Soldaten“, deren Familie zwar in Israel wohnhaft ist, zu denen die jungen Leute aber wenig Kontakt haben. Einer von ihnen ist Jossi. Der 22-Jährige stammt aus einer ultra-orthodoxen Familie. „Als ich vor etwas mehr als drei Jahren entschied, in die Armee zu gehen, waren meine Eltern schockiert.“ Aber auch für ihn selbst war es nicht leicht: „Mit Beginn der Armeezeit betritt jeder eine neue Welt. Doch jemand mit ultra-orthodoxem Hintergrund betritt eine andere Galaxie.“
Das „Jerusalemer Institut für Gerechtigkeit“ setzt sich für die Belange von benachteiligten Menschen in Israel ein. Die Mitarbeiterin Flavia Sevald stammt selbst aus Argentinien: „2009 fielen uns die Lebensumstände der ‚einsamen Soldaten‘ auf. Oft wissen sie nicht, wo sie ihre Wochenenden verbringen sollen und sind außerhalb der Armee komplett auf sich selbst gestellt. Wir sahen dringenden Handlungsbedarf. Neben rechtlichen Aspekten helfen wir auch ganz praktisch: Am Schabbat oder zu Feiertagen holen wir die Soldaten von ihren Unterkünften zum Essen ab.“
Die jungen Leute sind dabei zu nichts verpflichtet. „Sie dürfen zu uns kommen, wie sie sind. Nur um eine Sache bitten wir: Weil unsere Schabbatessen in einem guten Hotel abgehalten werden, bitten wir die Soldaten, nicht in kurzen Hosen zu kommen.“ Doch als kurz darauf einer der Soldaten den Raum mit kurzen Hosen betritt, lacht die Frau mit den blonden Locken nur: „In der Armee gibt es genug Regeln. Sie sollen sich hier wie zuhause fühlen.“
„Einmal einsamer Soldat, immer einsamer Soldat“
Jossi kommt seit zwei Jahren fast jede Woche. „Ich bin froh, dass ich hier ins Hotel kommen kann. Manchmal kommen am Schabbatabend 15, aber manchmal auch 80 Soldaten. Ich kenne alle. Es ist immer gut, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen.“ Im vergangenen Sommer endete Jossis Armeedienst, zu den Schabbatessen kommt er trotzdem. Er grinst, als er sagt: „Bist du einmal ‚einsamer Soldat‘, bleibst du es für immer.“
Den Großteil der „einsamen Soldaten“ bilden jedoch Juden aus dem Ausland. Ari Abramowitz erzählt von seinem Freund Mordi, der als „einsamer Soldat“ nach Israel kam und mit der harten Wirklichkeit konfrontiert wurde. Seine erste Nacht hat er draußen, auf dem jüdischen Markt in Jerusalem, verbracht.
„Wenn andere Soldaten zu ihrer Familie fuhren, war Mordi allein.“ Ari spricht schnell, als er erzählt: „Mir ging es ähnlich. Als ich im Alter von 20 Jahren aus New York nach Israel kam, begann ich meinen Wehrdienst bei der Armee.“ Der Vater eines Sohnes trägt Kippa und Bart: „Ich wollte zeigen, dass mich dieses Land was angeht, dass ich dazugehöre. Aber es war keine leichte Zeit. Ich kannte hier niemanden wirklich. Ich lernte Mordi kennen, wir trafen andere ‚einsame Soldaten‘ und begannen, auf dem jüdischen Markt Schabbatessen zu organisieren.“
Ein neues Zuhause
Mordi und Ari mieteten eine Wohnung in Nachlaot, dem Viertel neben dem jüdischen Markt. „Wir luden unsere Kameraden ein. Wir begannen, Schabbatessen zu organisieren, doch die Leute gingen nicht mehr nach Hause. Sie wollten ein Zuhause, keine Pizza oder Barbecue, das gibt es überall. Diese Essen sprachen sich herum. Heute haben wir eigene Familien und mieten ein extra Haus, das 24 Stunden für ‚einsame Soldaten‘ offen ist. Manchmal kommen am Freitagabend 50 Soldaten zum Essen. Und unsere Wohnungen stehen natürlich auch offen.“
Längst haben Ari und Mordi einen Verein gegründet, „Chajal el Chajal“ (Soldat zu Soldat), der sich um die Belange der „einsamen Soldaten“ kümmert. „Es ist toll, dass wir jungen Menschen in dieser wichtigen Zeit ein Zuhause bieten können, doch wir leben von Spenden. Es müsste viel mehr Organisationen wie unsere geben, um den großen Bedarf zu decken.“
„Einsame Soldaten“ bekommen ein höheres Grundgehalt von der Armee sowie finanzielle Unterstützung von den Ministerien. Häufig bekommen sie eine Wohnung gestellt sowie zusätzliche Urlaubstage. Doch all das hilft ihnen nicht in den einsamen Momenten, die sie besonders an den Wochenenden häufig erleben.
Als Deutsche in der Armee volontieren
Auch Sana ist seit einem Jahr „einsame Soldatin“. Sie hat lange schwarze Haare und trägt ein rotes Kleid, als sie am Freitagmittag in Jerusalem unterwegs ist. In der Ben-Jehuda-Straße setzt sie sich auf einen Mauervorsprung, um ein Eis zu essen. „Das ist gar kein Problem, die Armee hat mich abgehärtet. Ich kann inzwischen überall sitzen und schlafen. Wenn man in der Armee ist, hat man kein normales Leben mehr. Im Urlaub muss ich mich immer erst dran gewöhnen, länger als bis fünf zu schlafen oder es mir gemütlich zu machen, mehr zu lachen. Schule oder Uni kann man schwänzen, doch Soldat ist man mit jeder Faser seines Lebens.“
Sanas Familie stammt aus der Ukraine. „Vor über 22 Jahren sind meine Eltern nach Dortmund gezogen, wo ich geboren bin, aber sie haben nie richtig Deutsch gelernt. Wenn dir alles auf dem Silbertablett serviert wird und du dich um nichts kümmern musst, warum solltest du dir dann die Mühe machen, Deutsch zu lernen? Sie haben sich in Dortmund ihre kleine ukrainische Welt aufgebaut. Und mussten sich also gar nicht integrieren. Hier in Israel ist das anders.“
Nach einem einjährigen Kurs für junge Frauen zum Thema Judentum hat Sana sich entschieden, zur Armee zu gehen. Obwohl sie noch keine Israelin ist, kann sie dort einen anderthalbjährigen Volontärsdienst ableisten. „Die haben uns erstmal in einen Hebräischkurs gesteckt. Heute bin ich Ausbilderin und unterrichte auf Hebräisch. Ich habe die Aufgabe, in drei Wochen aus Zivilisten Soldaten zu machen. Bei mir lernen sie alles über ihr Gewehr, ich zeige ihnen, wie man schießt, oder das Armeeradio auseinander nimmt. Wir machen einen Erste-Hilfe-Kurs und lernen, wie man Gasmasken benutzt.“ Sana ist begeistert, wenn sie von ihrer Tätigkeit berichtet: „Die Israelis interessiert es nicht, ob ich grammatisch richtig spreche, stattdessen spüren sie, ob ich mich um sie kümmere und ob ich sie ernst nehme.“
Nach dem Armeedienst möchte Sana gern in Deutschland studieren, aber dann irgendwann auf jeden Fall nach Israel einwandern. „Ich weiß, dass ich meine Kinder hier erziehen möchte. Deshalb volontiere ich ja auch hier. Ich möchte für mein Land kämpfen und es verteidigen.“
Die junge Frau erzählt fröhlich: „Dass es heute den Staat Israel gibt, ist das größte Wunder überhaupt. Nach der ganzen Geschichte und nach allem, was passiert ist – ein tatsächliches Wunder: Wir waren hier, dann sind wir rausgekickt worden und dann hat Gott 1948 gesagt: ‚Jetzt ist die Zeit für Juden, wieder zurückzukehren.‘ In Europa sehe ich keine Zukunft für mich.“
Judentum und Israel nicht trennen
Sana ist sich sicher: „Israel kommt in den Medien so schlecht weg. Die ganze Welt hasst uns und es ist doch klar, dass Antizionismus nur ein anderes Wort für Antisemitismus ist. Wenn ich über Judentum lerne, lerne ich auch über Israel und mein Land. Wenn die Leute sagen, dass sie nichts gegen Juden haben, sondern nur gegen Israel, ist das ganz klar Antisemitismus. Man kann das einfach nicht trennen.“
Vor etwa einem Jahr nahm ein Freund sie mit zu „Chajal el Cajal“: „Es gab da so eine Bier- und Pizzaparty. Es gibt öfter solche Aktionen, auch mal Mädchen- oder Filmabende. Wann immer man will, kann man kommen. Auch, wenn man mal einen Rucksack braucht oder irgendwas.“ Die Dankbarkeit ist spürbar, wenn Sana von der Organisation erzählt: „Besonders schön ist, zu sehen, dass man nicht allein ist. Dass man nicht der einzige Verrückte ist, der seine Familie und seine Komfortzone verlässt, sondern dass es auch andere gibt, die das tun. Ich wüsste nicht, wo ich heute meine Schabbatabende verbringen würde, wenn es ‚Chajal el Chajal‘ nicht gäbe. Es sind zwei Familien, die ihre Türen für uns öffnen, weil unsere eigenen Familien weit weg sind.“ (mh)