Hunderttausende Syrer, Iraker, Ägypter und Jemeniten wären noch am Leben und Europa müsste sich nicht mit Flüchtlingsmassen plagen. Da der „Spiegel“ nicht müde wird, den siedelnden jüdischen Sündenbock an die Wand zu malen, bot sich an, das Archiv dieser Zeitschrift nach der Wurzel des Übels zu durchforsten.
Es geht bei diesem Artikel keineswegs darum, den rechtlichen oder politischen Status der Siedlungen zu klären. Vielmehr soll hier der Wandel in der Wahrnehmung der Siedlungen dargestellt werden, im Wesentlichen anhand des öffentlich zugänglichen Archivs des „Spiegel“.
Erste Siedlungen interessierten niemanden
Im September 1967, wenige Monate nach dem Sechs-Tage-Krieg, gründeten Israelis in Kfar Etzion die erste Siedlung in den frisch besetzten Gebieten. Im Etzionblock hatten vor der Staatsgründung 1948 Juden in mehreren Dörfern auf legal gekauftem Land gelebt. Doch die Jordanier hatten sie bei blutigen Schlachten vertrieben. Nun wollten die ehemaligen Siedler und ihre Nachkommen heimkehren. Keine deutschsprachige Zeitung bemerkte diesen ersten Schritt zur späteren Siedlungspolitik.
Ähnlich ging Rabbi Mosche Levinger beim Pessach-Fest 1968 vor. Er mietete sich im Park-Hotel ein, um in Hebron, der Stadt der Erzväter, zu bleiben. Bei Pogromen waren 1929 alle Juden aus der Stadt Hebron vertrieben worden, in der sie fast 3.000 Jahre lang ununterbrochen nahe den Gräbern des Abraham und biblischer Erzväter gewohnt hatten.
Diese Neubesiedlung im ehemaligen jüdischen Viertel der arabischen Großstadt Hebron löste in Israel Kontroversen und Demonstrationen aus. Interessant sind die Begriffe, die „Der Spiegel“ am 27.5.1968 veröffentlichte. Was das Wochenmagazin heute als „illegale Siedler“ bezeichnet, hieß damals: jüdische Pilger, Israelis, Pilger-Stoßtrupp, Parkhotel-Bewohner, strenggläubige Juden, Ansiedler, Eindringlinge, israelischen Pioniere, wilde Hebron-Siedler, Hebron-Pioniere.
Bewunderung für die Leistungen der Pioniere
In den Jahren danach werden Siedlungen immer wieder erwähnt, etwa bei Politikertreffen. Verständnisvoll spricht man vom Sicherheitsgürtel israelischer Wehr-Siedlungen. 1970 heißt es im „Spiegel“: „Den acht Pionieren vom ‚Kibbuz Golan‘ folgten inzwischen Tausende weitere Kibbuzniks in die 1967 von Israel eroberten Gebiete. Heute siedeln Israelis bereits in 14 Dörfern auf den Golan-Höhen, neun Wehrdörfer baute Israel in Westjordanien, fünf Siedlungen gründeten die Israelis in den letzten drei Jahren auf der ehemals ägyptischen Sinai-Halbinsel.“
Strategische, geopolitische und wirtschaftliche Motive veranlassten Israels Regierung nach dem Sechs-Tage-Krieg, in den eroberten Gebieten Wehrsiedlungen anzulegen. „Je mehr Siedlungen in strategisch wichtigen Gebieten begründet werden“, proklamierte Vizepremier Jigal Allon, „umso eher sind wir künftig in der Lage, sichere Grenzen zu errichten.“ Mosche Dajan spricht gern von „neuen Tatsachen“, die mit den Wehrdörfern geschaffen würden, von „Israelisierung“ besetzter Gebiete. Und so berichtet der „Spiegel“ ohne Erwähnung eines „Völkerrechts“ und ohne auch nur ansatzweise von „Illegalität“ zu sprechen:
„In kurzer Zeit entwickeln sich dann die Siedlungen der Neuzeit-Pioniere zu florierenden Unternehmen: Landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 4,5 Millionen Mark verkauften die Dörfler auf den Golan-Höhen im vergangenen Jahr. Nach einem Fünf-Jahres-Plan sollen dort bis 1975 etwa 3.500 weitere Israelis in 17 Dörfern angesiedelt werden. Drei städtische und zwei weitere Touristik-Zentren im Gesamtwert von 300 Millionen Mark sind geplant“, heißt es in dem Magazin.
Der „Spiegel“ geht auch auf die Produktion ein: „Das Nachal Dikla und das Nachal Sinai am Golf von Suez produzieren Wintergemüse, das bis nach Frankfurt und Zürich geflogen wird. Der Nachal Jam an der Bardawill-Lagune auf der Sinai-Halbinsel fing letztes Jahr 600 Tonnen Fische. Im salzhaltigen Jordantal züchten israelische Forscher Fische, die in bestimmten Salzwasser-Konzentrationen leben können. Letzte Woche weihten die Israelis am Toten Meer sogar ein Thermalbad ein — genau an der Stelle, wo vor fast 2.000 Jahren römische Legionäre kurten. Die Wehrsiedlungen im Jordantal, oft nur einige hundert Meter von der Front entfernt, sind längst keine Provisorien mehr; sie sehen eher aus wie Musterfarmen: mit Blumenbeeten um die luftgekühlten Wohnhäuser, mit Swimming-Pool und modernsten Traktoren.“
Positive Darstellung – bis 1979
Bemerkenswert ist hier nicht nur die durchweg positive Darstellung der Siedlungen. Die „Spiegel“-Autoren scheinen die „Neuzeitpioniere“ für ihren Fleiß zu bewundern. Und ganz nebenher wird da erwähnt, dass es offensichtlich auch keinerlei Widerspruch in Europa gab. Wie selbstverständlich wird der Export der Siedlungswaren nach Zürich und Frankfurt erwähnt. Wohl zum Ausgleich werden da kurz Proteste in Israel erwähnt: „Der Kabinettsbeschluss erregte nicht nur die Araber, sondern auch linke Israelis. Der sozialistische Abgeordnete Uri Avnery sah darin ‚ein Manöver gegen den Frieden‘. Vor dem Haus von (Ministerpräsidentin) Golda Meir demonstrierten Studenten mit Slogans wie ‚Entweder Frieden oder Ansiedlung‘ und ‚Sicherheit — ja; Annexion — nein‘.“
Israel verhandelte 1979 mit Ägypten über Frieden und so auch über das Schicksal der Siedlungen im Sinai. Deutschland versteifte sich auf das „Selbstbestimmungsrecht“, die ideologische Basis für die deutsche Wiedervereinigung. Israel wurde gedrängt, die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) anzuerkennen, damals noch eine Terror-Organisation. Menachem Begin und Anwar Sadat redeten über eine palästinensische Autonomie, die Palästinensern mehr gegeben hätte als die 1993 von Jitzhak Rabin und Jasser Arafat ausgehandelten Osloer Verträge. Doch die PLO lehnte ab.
Für die Medien, und so auch für den „Spiegel“, war das eine Gelegenheit, die Siedlungen als „Hindernis für den Frieden“ darzustellen. Außenminister Mosche Dajan sagte damals schon seinem deutschen Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher, dass Israel ein komplettes Abräumen aller Siedlungen nicht akzeptieren könne, weil damit das Westjordanland „judenfrei“ gemacht würde. Dieses Motiv in Nazisprache taucht immer wieder auf, zuletzt gegenüber Frank-Walter Steinmeier.
Wie heißt das besetzte Westjordanland?
Inzwischen waren die Siedler zu einem zunehmend kontroversen Thema geworden, etwa mit der Gründung der Gusch Emunim-Bewegung. Da änderte sich auch der Ton in der Berichterstattung. Hier Begriffe aus einem Artikel im „Spiegel“ vom 26.11.1979: Gusch Emunim, Israels radikale Siedler-Sekte, Gruppe orthodoxer jüdischer Glaubenseiferer, Fanatiker mit einflussreichen Freunde, chauvinistische Zeloten, amokblinde „Vorläufer des Faschismus“, vaterländische Eiferer, pseudo-messianische Minderheit.
Bemerkenswert ist hier, wie sich die Bezeichnung von Cisjordanien wandelt. Es wurde zunächst „Westjordanien“ genannt, dann „Westufer des Jordans“, „Judäa und Samaria“ oder auf Englisch „Westbank“. Erst in neuerer Zeit bürgerte sich der Begriff „Palästinensergebiete“ für das gesamte Westjordanland bis zur „Grenze von 1967“ ein. Diese „Grenze“ war freilich nur eine zwischen Israel und Jordanien ausgehandelte „Waffenstillstandslinie“, ohne Auswirkungen auf künftige diplomatische Verhandlungen, laut dem Rhodos-Abkommen von 1949.
Illegale Siedlungen: Obamas neue Sprachregelung
Der Begriff „illegal“ wurde in den ersten Jahren nach 1967 allein für Siedlungen verwandt, die ohne Segen der israelischen Regierung errichtet worden sind. Sie waren also gemäß israelischer Vorstellung illegal. Das galt nicht für die Siedlungen in Gusch Etzion oder die von der Regierung errichteten Städte wie Kirijat Arba oder Ma‘aleh Adumin.
In einem Interview mit Mosche Dajan erwähnten „Spiegel“-Reporter am 13.8.1979, dass die Amerikaner in den besetzten Gebieten errichtete israelischen Siedlungen für „illegal“ halten. Aus dem Kontext geht jedoch hervor, dass hier nicht pauschal alle Siedlungen gemeint sind, sondern nur die sogenannten „Vorposten“, die „wild“ errichtet worden sind. Israel hat sich tatsächlich im Rahmen der sogenannten „Roadmap“ von 2003 dazu verpflichtet, sie zu räumen.
Mit der
Rede von Präsident Barack Obama in Kairo am 4. Juni 2009 begann eine neue Sichtweise. Obama wollte den Islam und die arabische Welt „umarmen“. Er bezeichnete erstmals die israelischen Siedlungen als „illegitim“, und seitdem werden die Siedlungen grundsätzlich allesamt für „illegal“ erklärt. Er kreierte damit nicht nur eine neue Sprachregelung, sondern schuf gleichzeitig ein exklusives Völkerrecht speziell für Israelis. Zuvor hatten amerikanische Präsidenten darauf geachtet, die Siedlungen als „Hindernis für den Frieden“ zu bezeichnen. Sie galten damit als Objekt für künftige Verhandlungen, wie viele andere Steine des Anstoßes.
Indem jedoch Obama die Siedlungen für illegitim, also de facto „illegal“ bezeichnet und ihr Verschwinden gefordert hat, versetzte er dem Friedensprozess und den israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen einen Todesstoß. Der palästinensische Chefverhandler Saeb Erekat wurde sinngemäß zitiert: „Wenn die Amerikaner die Siedlungen für illegal halten, können sie von uns Palästinensern nicht mehr erwarten, darüber zu verhandeln. Denn dann ist es die Aufgabe der Amerikaner, diesen illegalen Zustand abzuschaffen.“
Berufung auf das Völkerrecht
Mit der Darstellung der Siedlungen als „illegal“ verschärfte sich auch die Diskussion um das „Völkerrecht“. Dabei ist das Völkerrecht keineswegs eindeutig. Manche Juristen fragen, ob die Genfer Konventionen zwingend auf die von Israel besetzten Gebiete anwendbar sind. Denn israelische Siedler werden von niemandem „gezwungen“, in die besetzten Gebiete zu ziehen, was in der Genfer Konvention einer „Deportation“ oder einem „Transfer“ entspräche. Das Westjordanland hat zudem seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1917 keinem souveränen Staat gehört. Jordanien oder Ägypten waren nur Besatzer. Was also in der Welt seit der Rede Obamas 2009 als Konsens gilt, ist unter Völkerrechtlern durchaus umstritten.
Der Reigen um eine Kennzeichnung von Waren aus den besetzten Gebieten wiederum begann durch Zufall. Pflichtbewusste Zöllner im Hamburger Hafen bemerkten 2010, dass Sodastream, Hersteller von Wassersprudlern, keine Adresse im Kernland Israels nachweisen konnten. Doch das Freihandelsabkommen mit der EU sah vor, dass Waren „Made in Israel“ aus Israel stammen müssten. Die besetzten Gebiete gehörten nicht dazu.
Sodastream weigerte sich, Zoll in Höhe von 19.155,46 Euro zu entrichten. Der Fall kam vor das EU-Gericht und da wurde entschieden, dass Waren aus den besetzten Gebieten voll verzollt werden müssten. Israel sollte fortan die Herkunft seiner Waren genau kennzeichnen. Derartige Vorschriften gelten nur für Israel und nicht für andere Länder wie die Türkei oder Marokko. So wurde eine Kampagne losgetreten, die sich nicht nur die Boykott-Bewegung BDS zunutze machte.
Die Darstellungen heute
Heute beschränkt sich die Darstellung der Siedlungen beim „Spiegel“, bei der ARD und vielen anderen Medien fast ausschließlich auf Negativ-Themen. Die modernen Schlagworte sind Häuserzerstörungen, Wasserklau, Landenteignungen oder Überfälle extremistischer Siedler auf Palästinenser. Dass in den Siedlungen, darunter in Vierteln Jerusalems jenseits der „Grünen Linie“, eine halbe Million normale Israelis leben, wird vollkommen negiert: Linke, Fromme, Einwanderer, Rechte und Araber.
Die Berichterstattung geht sogar einen gefährlichen Schritt weiter, indem über „illegale Siedler“ gesprochen wird, wobei nur Juden im Sinne der Lex Obama gemeint sind. Niemals würde „Spiege Online“ so über Palästinenser schreiben, die in „illegal“, also ohne Baugenehmigung errichteten Häusern, wohnen oder siedeln.
Wer Menschen für „illegal“ erklärt, spricht ihnen das Recht auf Leben, das Existenzrecht ab. (uws)
Dieser Beitrag erschien zuerst bei www.audiatur-online.ch