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Der Mikrokosmos des Extremismus

Ein einziger religiöser Extremist genügt, um den Nahen Osten zur Explosion zu bringen. Diese Ansicht hat der Jerusalemer Friedensaktivist Joel Weinberg am Mittwoch im mittelhessischen Gießen geäußert. Anlass zur Hoffnung sieht der Israeli dennoch.
(v.l.): Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Dov Aviv, Pfarrer Wolfgang Grieb von der Christlich-Jüdischen Gesellschaft und Referent Weinberg
Eines möchte Joel Weinberg gleich zu Beginn seines in amerikanischem Englisch gehaltenen Vortrages klarstellen: Es gehe ihm nicht um religiösen Fundamentalismus, sondern um Extremismus. Denn Fundamentalismus sei in seinem Kontext ein falscher Begriff. Ende des 19. Jahrhunderts habe ihn eine christliche Bewegung verwendet, die zu den Fundamenten ihres Glaubens zurückkehren wollte. Jüdischer Extremismus hingegen richte sich auf eine messianische Vision. Auch islamischer Extremismus beziehe sich nicht auf die eigenen Wurzeln. Nach dieser einführenden Erklärung widmet sich der Israeli, der eine Kippa trägt, seinem Thema: „Von der Hoffnung zur Furcht – Religiöser Extremismus im Nahen Osten“. Ins Zentrum stellt er den Tempelberg, den er als „Mikrokosmos mit vielen allgemeinen Strukturen“ ansieht. Er verweist auf sieben Grundkonflikte, von denen die Soziologie spricht – etwa zwischen den Generationen oder den Geschlechtern. Jerusalem sei die einzige Stadt in der Welt, in der alle diese Konfliktfelder zu finden seien, und das auf höchster Ebene. Der Tempelberg sei die Spitze davon.

Wie ein australischer Christ zum Juden wurde

Weinberg zeigt auf, wie Extremisten historische Tatsachen verfälschen. Er nennt die beiden jüdischen Tempel, den Jupitertempel, den Felsendom, die Al-Aksa-Moschee. Sie alle seien auf dem umstrittenen Gelände erbaut worden. Die Muslime hätten den Platz 1.000 Jahre lang arabisch als „Beit al-Mikdas“ (Haus des Tempels) bezeichnet. Doch dann hätten islamische Führer Zweifel daran gesät, dass sich dort jemals ein jüdisches Heiligtum befunden habe. Als Beispiel führt der Friedensaktivist eine Rede des 2004 verstorbenen Palästinenserführers Jasser Arafat an, der vor 15 Jahren behauptete, der jüdische Tempel habe sich im Jemen befunden. Das sei natürlich falsch. Doch viele Muslime hielten es für wahr. Weitere Muslime verlegten den Tempel in die Jerusalemer Davidsstadt oder ins Kidrontal. Ein australischer Christ wiederum habe 1968 versucht, die Al-Aksa-Moschee niederzubrennen. Er befinde sich mittlerweile in psychotherapeutischer Behandlung. Heute heiße es in vielen muslimischen Quellen, der Brandstifter sei Jude gewesen und damit durch das „zionistische Gebilde“ beauftragt worden. Wenn sich der Vorfall nicht in der relativ ruhigen Phase direkt nach dem Sechs-Tage-Krieg, sondern später ereignet hätte, wäre der Nahe Osten explodiert, merkt der Referent an.

Eine Milliarde Muslime bereit zur Verteidigung

Ferner legt Weinberg dar, wie führende Muslime eine angebliche Bedrohung der heiligen Stätten in Jerusalem für ihre Zwecke nutzen. So habe im Jahr 1924 der damalige Jerusalemer Mufti Hadsch Amin el-Husseini Geld benötigt, weil er die islamischen Gebäude auf dem Tempelberg restaurieren musste. Um für sein Anliegen zu werben, habe er verkündet: „Die Al-Aksa-Moschee ist in Gefahr.“ Diese gehe von den Juden aus, sagte der Verantwortliche der islamischen heiligen Stätten in Jerusalem. Die Propaganda von der gefährdeten Al-Aksa-Moschee sei unglaublich erfolgreich. Die Mehrheit der Muslime im Nahen Osten ist nach Einschätzung des Friedensaktivisten der Auffassung, dass Israel den Tempelberg zerstören wolle. Deshalb müssten sie zu dessen Verteidigung bereit sein. Dies habe sich etwa gezeigt, als ein israelischer Computerspezialist vor ungefähr zehn Jahren den vorher aufgenommenen Ruf des Muezzins für die Al-Aksa-Moschee installieren sollte. Da er die Zeiten nicht kannte, programmierte er den Gebetsruf irrtümlich für 0.30 Uhr. „In zehn Minuten kamen Tausende Muslime, um den Tempelberg gegen die Juden zu verteidigen.“ Derzeit wären mehr als eine Milliarde Menschen bereit, die heiligen Stätten im Notfall gegen Israel zu schützen. Immer wieder habe eine angebliche Gefährdung zu Unruhen mit zahlreichen Todesopfern geführt.

Streit um jüdische Präsenz

Juden dürfen zwar den Tempelberg in kleinen Gruppen für einen Rundgang besuchen, aber nicht auf dem Gelände beten. Nach dem Sechs-Tage-Krieg habe der damalige Verteidigungsminister Mosche Dajan festgelegt, dass der Tempelberg unter muslimischer Kontrolle bleibe. Die beiden Oberrabbiner Israels unterstützten ihn dabei, weil nicht bekannt ist, wo sich einst das Allerheiligste befand. Widerspruch sei hingegen vom damaligen obersten Militärrabbiner Schlomo Goren gekommen, ergänzt der Referent und zeigt ein Bild, das den Juden mit Torah in der Al-Aksa-Moschee zeigt. Der Rabbi habe 150 Tonnen Sprengstoff gefordert, um die Moschee in die Luft zu sprengen. Denn aus seiner Sicht war 1967 die Zeit gekommen, den Tempel wiederaufzubauen. Goren wurde später israelischer Oberrabbiner und begann Ausgrabungen, um Utensilien vom Tempeldienst ausfindig zu machen. Doch der Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek schüttete die Grabungsstätte mit Zement zu. Seitdem sei nie mehr unter dem Tempelberg gegraben worden. Der Führer der Islamischen Bewegung in Nordisrael, Raed Salah, hingegen habe Schutt entfernt und ins Kidrontal geleert. Dies habe die Statik des Tempelberges gestört, sagt Weinberg. Die Mauer sei im entsprechenden Abschnitt zwischen 500 und 2.000 Jahre alt. Als Israel einschreiten wollte, habe die islamische Aufsichtsbehörde Wakf dies abgelehnt. Jordanische Ingenieure wurden schließlich beauftragt, den Schaden zu beheben. Drei Jahre später verhinderten ägyptische Experten, dass Steine, die sich durch Wasser gelöst hatten, den Komplex gefährdeten. Salah strebe ein Kalifat „Großpalästina“ an.

„Extremisten fürchten Krieg nicht“

Weinberg geht auch auf Bestrebungen ein, den dritten jüdischen Tempel zu errichten. Aktuell würden Priester für ihre neue Aufgabe vorbereitet. Manche Christen unterstützten diese Juden, um die Wiederkunft Jesu zu beschleunigen. Obwohl jüdische Extremisten einen völlig anderen Zugang zum dritten Tempel hätten, arbeiteten sie in diesem Punkt zusammen. Es gebe sogar Christen, die Juden mit Geld und Waffen versorgten, damit diese die Al-Aksa-Moschee in die Luft sprengen könnten. Einen großen Unterschied sieht der Israeli zwischen diesen Aktivisten und muslimischen Extremisten: Christen und Juden, die einen dritten Tempel errichten wollen, nutzten Leben, um das Ende der Zeit herbeizuführen. Extreme Muslime hingegen nutzten den Tod, um an der gegenwärtigen Situation etwas zu ändern. Gemeinsam sei ihnen allen, dass sie gegen einen Krieg nichts einzuwenden hätten. Das sorge für Zündstoff.

Zusammenarbeit und Hetze

Eine Zuhörerfrage, ob der Westen die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) unterstützen solle, bejaht Weinberg. Doch ihre finanziellen Zuwendungen sollten EU und USA mit der Forderung verbinden, dass die PA ihre Hetze gegen Israel beende. Denn gleichzeitig arbeiteten etwa palästinensische und israelische Sicherheitskräfte im Westjordanland sehr gut zusammen. Auch deshalb könnten Israels Geheimdienste 99 Prozent der geplanten Anschläge vereiteln. Diese Kooperation widerspreche der fortdauernden Aufwiegelung, sei aber bezeichnend für die „nahöstliche Logik“.

Für Jerusalems Frieden beten

Sieht der Jude trotz aller Widersprüche und Konflikte – umgekehrt zu seinem Vortragsthema – einen Weg „von der Furcht zur Hoffnung?“. Als Antwort zitiert Weinberg aus Psalm 122,6. Die Aufforderung könne übersetzt werden mit „Fragt nach dem Frieden Jerusalems“, aber auch mit „Bittet um den Frieden Jerusalems“. Wenn dies geschieht, wäre das aus seiner Sicht ein Schritt in Richtung einer besseren Zukunft. Joel Weinberg hat Jüdische Philosophie, Internationales Recht und Nahoststudien studiert. Sein Vortrag in der Jüdischen Gemeinde Gießen bildete den Abschluss einer Reihe zum Thema Kriegsrealitäten und Friedenshoffnungen im Nahen Osten. Weitere Referenten waren der arabisch-israelische Islamwissenschaftler Josef Mubarki und der in Jerusalem lebende Deutsche Georg Rössler. Veranstalter war die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar.

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