Man schreibt den 28. Nissan 5774, nach gregorianischem Kalender den 28. April 2014: Es ist der israelische Holocaust-Gedenktag, der „Jom HaSchoah“. An dem Nationalfeiertag gedenken Juden der mehr als sechs Millionen Opfer, die durch die Nationalsozialisten starben. Bereits zum 26. Mal findet der „March of the Living“ („Marsch der Lebenden“) statt; ein Marsch des Gedenkens und Erinnerns von Auschwitz nach Birkenau. Über 11.000 Menschen, darunter vor allem junge Juden aus aller Welt, sind an den Ort gekommen, wo ihr Volk beinahe vollkommen ausgelöscht worden wäre.
Die jüdische internationale Organisation „Marsch der Lebenden“ veranstaltet seit 1988 alljährlich den Gedenkmarsch – hauptsächlich für das jüdische Volk. Seit über zehn Jahren nehmen aber auch vermehrt Nichtjuden daran teil. Die „Internationale Christliche Botschaft Jerusalem“ (ICEJ) organisiert in diesem Jahr zum zweiten Mal eine viertägige Bildungsreise für deutsche Jugendliche. Gottfried Bühler, dem Leiter des deutschen Zweiges der ICEJ, geht es darum, die knapp 60 Schüler vor Ort mit der Geschichte des Holocaust zu konfrontieren. „Wir wollen zeigen, dass wir an der Seite des jüdischen Volkes stehen und uns gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen“, sagt der Mitinitiator der Reise.
Unter den Teilnehmern sind auch die Elftklässlerinnen Melina und Jule. Sie belegen den Leistungskurs Religion des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Stuttgart-Sillenbuch. Auf der langen Busfahrt ist der 17-jährigen Melina ein wenig mulmig vor dem, was sie in Auschwitz sehen wird. „Ich glaube, es wird sehr interessant, aber auch sehr, sehr traurig. Man will eigentlich keine Bilder im Kopf haben, von dem, was dort alles geschehen ist. Aber ich glaube, die Reise dorthin ist für jeden wichtig, der sich mit seiner Geschichte, gerade auch als Deutscher, auseinandersetzen will“. Jule pflichtet ihrer Freundin bei: „Aber dadurch, dass wir bekennen, wer wir sind und was unsere Geschichte ist, kann man es auch überwinden und in die Zukunft schauen.“
Trauer und Hoffnung
Montag, 10 Uhr 30: Ankunft der Schüler an jenem Ort des Grauens, von dem sie schon viel gehört und gelesen haben. Es duftet intensiv nach Flieder. Regen hat die Erde unter den Füßen aufgeweicht, Matsch verdreckt die Schuhe. Geduldig warten sie, versteckt unter ihren Regenschirmen und Kapuzen, dass sie das Krematorium I im Stammlager Auschwitz besichtigen dürfen. Die Luft ist erfüllt von einem bunten Sprachengewirr, das Auge erhascht immer wieder einen Blick auf fremdländische Flaggen, die wie Farbtupfer wirken. Aus über 40 Nationen sind hauptsächlich Juden angereist, um der Toten zu gedenken.
Dicht gedrängt betreten die jungen Besucher die rekonstruierte Gaskammer durch eine schmale Tür. Eine klamme Kälte greift nach den Jugendlichen. Im fahlen Licht sind Spinnweben in den Ecken der grob verputzten Wände erkennbar. Der Blick geht zu den kleinen Öffnungen nach oben, durch welche die SS-Männer das tödliche Zyklon B in den Raum schütteten. Die Mädchen sind aufgewühlt. „Diese Besichtigung war hart. Da geht man sehr fertig und schockiert raus“, beschreibt Melina ihre Gefühle. Ähnlich wie die jüdischen Gruppen formieren sie sich mit ihren Mitschülerinnen und ihrer Religionslehrerin Claudia Schütz in einem Kreis. Sie legen die Arme umeinander und verharren schweigend.
Ein sichtbares Zeichen ihres Mitgefühls ist ein bemalter Stein, den sie bei ihrer Ankunft in Birkenau auf die alten Eisenbahnschienen legen. Dort, wo die Nazischergen Hunderttausende, in Viehwaggons angekarrte Menschen, direkt in die Gaskammern schickten. Dort, wo heute junge Juden kleine Holztäfelchen aufstellen, auf denen auf Englisch geschrieben steht: „Bertha Stern – ich marschiere für Dich“ oder „Wir vergessen nie“. Melinas Stein zieren die Worte „Wir glauben an denselben liebenden Gott“; Jule hat sich an den hebräischen Schriftzeichen versucht und „Schalom“ – „Frieden“ auf ihren Stein geschrieben.
Mittlerweile hat sich der Regen verzogen, es ist wärmer geworden. Vor dem Tor des früheren Todeslagers herrscht bei aller Trauer auch eine frohe und hoffnungsvolle Atmosphäre. Blau-weiße Flaggen mit dem Davidsstern wehen inmitten eines Meeres aus blauen Regenjacken. Und dazwischen: die schwarz-rot-goldene Deutschlandfahne. Im Hintergrund zeichnet sich das aus roten Backsteinziegeln erbaute Einfahrtsgebäude des Konzentrationslagers Birkenau ab. Durch den wolkenverhangenen Himmel kämpft sich ein Sonnenstrahl; aus den Lautsprechern ertönt leise hebräische und englische Musik. Die jungen Leute, viele eingehüllt in Israelflaggen, fotografieren sich, lachen. „Es herrscht eine Aufbruchsstimmung! Vielleicht passt der Vergleich nicht ganz, aber es ist ein bisschen festivalmäßig“, sagt Jule. Die Jugendlichen schauen zurück, trauern um Familienangehörige, die sie nie kennenlernten. Und gleichzeitig ist auch eine unbändige Freude darüber da, dass die Nationalsozialisten ihre teuflischen Pläne nicht bis zum Ende ausführten. Die Botschaft, die von diesem Ort ausgeht: „Es gibt uns noch, wir leben!“
Vergebung und Versöhnung
Als deutsche Staatsbürger dabei sein zu dürfen, empfinden die Schüler aus Stuttgart-Sillenbuch als große Ehre. Sie wissen um die Verantwortung, die auf ihnen lastet. „Man fühlt sich mitschuldig, aber das müssen wir eigentlich nicht, weil wir einfach nichts dafür können, was damals geschah“, sagt Melina.
Einige der Schüler tragen die deutsche Flagge in Kombination mit der israelischen. Das soll ausdrücken, dass man zum jüdischen Volk und zu Israel steht – eine Form der Solidarität. Jule und Melina hatten im Vorfeld Bedenken. „Ich glaube, das was bei den Leuten zuerst ankommt, ist vielleicht eher negativ, ja schockierend“, befürchtete Jule. Doch als sie ins Gespräch mit den jüdischen Teilnehmern kommen und die Botschaft erklären, stoßen sie in den meisten Fällen auf Verständnis. Die Schüler tauschen ihre Flaggen – wie bei einem Fußballländerspiel. Die deutsche Fahne ist offenbar ein begehrtes Erinnerungsstück. Sam aus London findet gut, dass die Schüler Schwarz-rot-gold mit dem Davidstern kombinieren. Sein Vater wäre allerdings nicht erfreut gewesen, die deutsche Flagge an diesem Ort zu sehen: „Er konnte die Deutschen zeitlebens nicht ausstehen.“
Die Enkelkinder der Opfer haben einen ungezwungeneren Zugang zu dem Thema Holocaust. Bei den Nachfahren der Täter ist es genauso. Das beobachtet die Lehrerin von Jule und Melina, Pfarrerin Claudia Schütz: „Sie müssen sich nicht mehr mit der direkten Schuldfrage auseinandersetzen, sie können eher dieser Grundfrage nachgehen: Wie können Menschen sich überhaupt gegenseitig in eine solche Situation hineinmanövrieren? Und welche Möglichkeiten gibt es, dagegen zu steuern, wo kann der Einzelne ansetzen? Wo muss ich mein Bewusstsein schärfen und was heißt es konkret, Verantwortung zu übernehmen?“
Verantwortung für die Zukunft
Dass sich die Jugendlichen darüber Gedanken machen, wünschen sich auch die Holocaust-Überlebenden, mit denen sie während ihrer Reise ins Gespräch kommen. Der 90-jährige Luděk Eliáš aus Ostrava in Tschechien hat Auschwitz überlebt und begann erst vor etwa 25 Jahren, über das unvorstellbare Erlebte in den Lagern zu sprechen. In seiner Heimatstadt hatte er eine Gruppe junger Leute mit Transparenten und Nazi-Parolen gesehen. Die Leute hatten gerufen: „Juden ins Gas!“ Da wurde ihm klar: „Ich darf nicht schweigen. Ich muss sagen, was Hass aus Menschen machen kann. Die Vergangenheit kann man nicht ändern – die Zukunft schon!“ Darum macht er unermüdlich weiter.
Am Ende des langen Tages trägt der Wind die sanfte Melodie der israelischen Nationalhymne über das Gelände. Gemeinsam stimmen Überlebende, die vielen angereisten jüdischen Jugendlichen und die Enkel und Urenkel der Täter die „HaTikvah“ – „Die Hoffnung“ – an: „Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren. Die Hoffnung, zweitausend Jahre alt zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“ Diese Zeilen an diesem Ort zu singen, ist für die meisten überwältigend. Die jungen Besucherinnen und Besucher verlassen Auschwitz mit Zuversicht im Herzen: Am Israel Chai – das Volk Israel lebt.
Melina und Jule gehören zu den Letzten mit der Chance, Zeitzeugen Fragen zu stellen. Jeden Tag sterben 20 bis 30 Überlebende der Schoah. „Da endet etwas ganz Entscheidendes“, findet Jule. Denn gerade die Begegnungen während ihrer Reise nach Auschwitz haben sie berührt. „Der Marsch hat wirklich was bewirkt und bewegt. Wir fahren verändert heim.“ Melina und Jule sind ermutigt, sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Vorurteile zu engagieren – auch wenn das unter Umständen heißt, gegen den Strom zu schwimmen.