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Die Suche nach der wahren Freiheit

Die arabische Welt befindet sich in einer Zeit des Umbruchs – mit ungewissem Ausgang. Eine zentrale Frage betrifft die Rolle der Religion in der Gesellschaft und das zukünftige Verhältnis von öffentlicher Moral und individueller Freiheit. Der islamische Diskurs verdeutlicht, dass die Freiheiten westlicher Gesellschaften viele Muslime sowohl faszinieren als auch abstoßen.
Segen oder Fluch? Für viele Muslime ist die westliche Freiheit anziehend und abstoßend zugleich.

Der arabische Begriff für Freiheit lautet „hurrija“. Das entsprechende Adjektiv bezeichnete im traditionellen Sprachgebrauch lediglich das Gegenteil von Versklavung. Vorislamische Poeten benutzten den Begriff darüber hinaus, um einen noblen Charakter oder ein edles und aufopferungsvolles Verhalten zu beschreiben. Mittelalterliche Theologen debattierten über das Verhältnis zwischen menschlicher Freiheit auf der einen und göttlicher Allmacht und Allwissenheit auf der anderen Seite. Für Mystiker wie Ibn Arabi (1165-1240) ging es bei Freiheit vor allem um eine allumfassende Abhängigkeit von Gott, die den Menschen frei machen sollte von allen anderen Einflüssen. Als politisches Konzept und Schlagwort für gesellschaftliche Bewegungen spielte Freiheit bis zum 19. Jahrhundert keine zentrale Rolle in der islamischen Welt.

Ansätze eines arabischen Liberalismus

Die meisten arabischen Intellektuellen und Politiker reagierten zunächst mit Skepsis oder offener Ablehnung auf die in der Französischen Revolution propagierten Werte. Die französische „liberté“ wurde mit Zügellosigkeit und Anarchie gleichgesetzt. Mitte des 19. Jahrhunderts brachten allerdings immer mehr religiöse und politische Kräfte im Osmanischen Reich den wissenschaftlichen Fortschritt und die wirtschaftliche Stärke Europas mit der Garantie politischer Freiheitsrechte in Verbindung.
Im 20. Jahrhundert warb der ägyptische Jurist und Publizist Ahmad Lutfi as-Sajjid (1872-1963) nicht nur für einen ägyptischen Nationalismus, sondern auch für säkulare und liberale Ideen. Der ehemalige Direktor der Universität Kairo behauptete gar: „Wenn die Fackel der Freiheit in der Seele des Individuums ausgelöscht und sein Denken durch ihre Abwesenheit verdunkelt wird, kann er nicht länger als Mensch angesehen werden“. Die Rückständigkeit der arabischen Welt lag für ihn vor allem an fehlender Freiheit – sowohl im Denken und Glauben als auch im Reden und Schreiben. Die Menschen im Osten waren nach seiner Darstellung noch zu sehr auf einen Herrscher fixiert, der das Volk wie ein Hirte nach seinen eigenen Erkenntnissen zu führen hatte.

Die Entstehung der Muslimbruderschaft

Der arabische Liberalismus konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Bereits 1928 gründete der Volksschullehrer Hassan al-Banna die Muslimbruderschaft, die bis heute einflussreichste islamische Massenbewegung mit mehr als 100 Ablegern in der ganzen Welt. Für Al-Banna gehörten Materialismus, „individuelle Selbstsucht“ und die „bedingungslose Freiheit für die niederen Instinkte“ zu den „Kennzeichen der europäischen Zivilisation“. Freiheit wurde fortan vor allem im kollektiven Sinn verstanden – als Unabhängigkeit von jeglicher (vor allem westlicher) Fremdherrschaft. Wahre Freiheit finden Mensch und Gesellschaft in diesem Denken erst, wenn sie sich einzig und allein Allah und seinen Gesetzen unterwerfen.

Ja zur Freiheit, solange …

Dass der Ruf nach politischen Freiheitsrechten aus der Situation der Minderheit oder Opposition heraus noch nicht bedeutet, dass dieselbe Freiheit auch gefordert wird, wenn man sich in der herrschenden Mehrheitsposition befindet, zeigt das Beispiel des einflussreichen ägyptischen Gelehrten und Fernsehpredigers Jussuf al-Karadawi (geb. 1926). Wenn er Freiheit als „grundlegende Voraussetzung des Lebens“ und als „notwendige Bedingung für das Erlangen von Glück“ beschreibt, klingt Al-Karadawi wie ein Liberaler. Geht es um staatliche Verfolgung islamistischer Kräfte, wie er sie selber am eigenen Leib unter dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser (1918-1970) erlebt hat, wettert er leidenschaftlich gegen ein Klima der Unterdrückung und Einschüchterung.
Gleichzeitig hält Al-Karadawi wie die Mehrheit islamischer Gelehrter an der Todesstrafe für denjenigen fest, der sich nach außen erkennbar vom Islam ab- und dem Atheismus oder einer anderen Religion zuwendet. In seinen Schriften grenzt er islamische Freiheit scharf von der „persönlichen Freiheit“ des Westens ab, die er als Freiheit zum Unglauben und zur Sünde, zur Unzucht und zum Ehebruch deutet – als Freiheit, sich selbst, der eigenen Moral und der eigenen Familie zu schaden. Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit gibt es damit für ihn nur im Rahmen unanfechtbarer Schariabestimmungen. Dieses Denken schlägt sich auch in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam nieder, die 1990 von 45 Außenministern islamischer Staaten verfasst worden ist. Dabei bleibt stets die Frage offen, wer die nicht kodifizierte Scharia verbindlich definiert und damit die Grenzen individueller und politischer Freiheit ziehen darf und wie sich eine Gesellschaft vor dem Missbrauch solcher Bestimmungen durch das herrschende System effektiv schützen kann.

Freiheit als „heiligstes Gut“

Ausgerechnet Hassan al-Bannas Bruder Gamal (1920-2013) veröffentlichte im Jahr 2000 ein Buch mit dem Titel „Unsere erste Forderung ist die Freiheit“. Aus dem Beispiel der Sowjetunion zog er den Schluss, dass ein Mangel an Freiheit zum Zusammenbruch eines Systems führt. Anders als die meisten Gelehrten und Islamisten fordert Gamal volle Glaubensfreiheit. Wo Apostaten bestraft werden, gibt es keine „tiefe, wahre und heilige Freiheit“. Noch kurz vor seinem Tod forderte er, dass jeder die Freiheit haben solle, den Koran so zu lesen, wie er will. Allerdings ist Gamal kein Religionsgelehrter, und seine Ideen erscheinen an den einflussreichen Institutionen der islamischen Welt bis heute undenkbar. Sie stehen im Widerspruch zur jahrhundertealten Tradition islamischer Gelehrsamkeit.
Entsprechend kontrovers verläuft auch in Deutschland die Debatte um die zukünftige Ausrichtung der islamischen Religionspädagogik. Der Münsteraner Theologe und Lehrstuhlinhaber Mouhanad Khorchide beschreibt Freiheit als „das heiligste Gut, was Gott dem Menschen geschenkt hat“, durch das der Mensch sich nach seiner Deutung „sogar gegen Gott selbst auflehnen und Gott ein Nein erteilen“ kann: „Gott will, dass wir uns für ihn, sprich für das Gute, in Freiheit entscheiden. Und dazu brauchen wir eine Alternative.“ Gerade in solchen Punkten kritisieren ihn die konservativen islamischen Dachverbände scharf. Sie werfen Khorchide eine unreflektierte Übernahme christlicher Terminologie und eine eigenwillige Koranauslegung vor, die im krassen Widerspruch zur klassisch-islamischen Theologie stehe.

„Verfluchte Freiheit“

Dass gerade junge Muslime auf der Suche nach ihrer Identität in westlichen Gesellschaften nicht nur Freiheit, sondern auch Orientierung suchen, hat der ägyptischstämmige Politikwissenschaftler Hamed Abdel Samad am eigenen Beispiel deutlich gemacht. Er spricht im Rückblick auf seine eigenen frühen Erfahrungen als Student in Deutschland von der „verfluchten Freiheit“. Während er in seinem Heimatland unter einem „Zwang der Gebote“ gelitten hatte, war er als Student in Deutschland hoffnungslos überfordert von einem „Zwang der Angebote“. In seiner Autobiographie spricht er von den „spießigen Kleinbürgern“, die sich nicht dafür zu interessieren schienen, ob Gott nun tot ist oder nicht und viel mehr über die „Kosten des Lebens“ als über den „Sinn des Lebens“ nachdachten. Abdel Samad hatte Freiheit gesucht und Gleichgültigkeit gefunden. Das führte bei ihm nach eigener Aussage zu einer moralischen Desorientierung. Entweder konsumierte er die „verbotenen Früchte des Abendlandes“ exzessiv oder er zog sich in die Moschee zurück und wurde noch religiöser als früher in Ägypten.
Hier wird deutlich, dass der islamische Freiheitsdiskurs die westliche Welt auf mehreren Ebenen herausfordert. Auf der politischen Ebene ist die Verteidigung der Unantastbarkeit menschlicher Würde, der Menschenrechte und der politischen Freiheiten unverzichtbar. Gleichzeitig gilt es auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene, neu über den Umgang mit Freiheit und ihr Verhältnis zu menschlicher Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen nachzudenken. Sollten Glaubens-, Sinn- und Wertefragen in der Zukunft weiter in die Privatsphäre verdrängt werden, könnten gerade solche Gruppen an Zulauf gewinnen, die einfache und radikale Wege aus der „verfluchten Freiheit“ propagieren.

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