Ein klassischer Grund für falsche Berichterstattung ist, dass Journalisten „berichten“, was passieren wird, anstatt sich an harte Fakten und das zu halten, was tatsächlich geschehen ist. So prognostizierte etwa der „Tagesspiegel“ vor dem Tod Scharons in prophetischer Kühnheit: „Viele Israelis werden den Tod des einstigen Regierungschefs allenfalls mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen.“
Zugegeben: Ich hätte selbst Ähnliches erwartet. Aber die meisten Journalisten sind schlechte Propheten. Tatsache bleibt, dass das endgültige Ableben Scharons tagelang jedes andere Thema in den israelischen Medien verdrängte. Kein mir bekannter Israeli wollte mir zustimmen, dass dies übertrieben sei. Vielmehr fanden alle – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen – den Rummel, die emotionalen Äußerungen und die Massenaufläufe vollkommen angemessen. Zehntausende von Israelis ließen es sich nicht nehmen, dem „Großvater der Nation“ die letzte Ehre zu erweisen – sei es vor der Knesset, wo der Sarg vor der Beerdigung der Öffentlichkeit gezeigt wurde, sei es beim Begräbnis selbst, das auf der Privatfarm der Familie Scharon im nördlichen Negev stattfand.
Zwischen Januar 2006, als Scharon ins Wachkoma fiel, und seinem Tod im Januar 2014 lagen acht Jahre. Eigentlich genug Zeit für gründliche Recherchen. Für manche deutschsprachige Journalisten war die Zeit aber offenbar nicht ausreichend, um sich von gängigen Klischees und arabischer Propaganda zu befreien.
Die ARD wollte wissen, dass Scharon die zweite Intifada „mit Gewalt“ beantwortete, und: „Um den Aufstand gegen die Besatzung niederzuschlagen, setzte er selbst Apaches, F-16 und Kampfpanzer ein.“ Tatsache ist, dass der Sozialdemokrat Ehud Barak „Frieden redete“, gleichzeitig aber die Palästinenser „bombardierte“. Deshalb nannten sie ihn auch den „Schlangenmann“. Scharon dagegen begann seine Amtszeit im März 2001 mit einem Waffenstillstand und gab so einer friedlichen Verständigung eine offensichtliche Chance.
Dass Scharon den Tempelbergbesuch im September 2000 – so sein Rechtsanwalt und Vertrauter Dov Weissglass – später als Fehler bezeichnet hat, wird in der breiten deutschsprachigen Öffentlichkeit ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass diese Aktion ursächlich nichts mit der Al-Aksa-Intifada zu tun hatte. Die schriftlichen Beweise dafür fanden die Israelis nach 2002 in Form von Dokumenten im Orient Haus, dem PLO-Hauptquartier in Jerusalem, und in der Mukata’a in Ramallah, dem Sitz von Palästinenserführer Jasser Arafat. Die PLO-Führung unter Arafat hatte den „Volksaufstand“ gegen den jüdischen Staat fast ein halbes Jahrzehnt lang vorbereitet, während man in der Öffentlichkeit friedliche Mittel zur Lösung des Konflikts beschworen und verhandelt hatte.
Laut ARD sollte Scharons „Abzug aus dem Gazastreifen […] es Israel […] erlauben, den größten Teil des Westjordanlands auf ewig zu behalten, ohne dass die Palästinenser dabei mitzureden hätten“. Offensichtlich übersehen hatten die Journalisten dabei, dass Scharon gleichzeitig mit dem Rückzug aus Gaza auch vier Siedlungen im nördlichen Westjordanland geräumt hatte. Ohne seiner eigenen Bevölkerung weitere Opfer abverlangen zu müssen, hätte er so den Palästinensern ein weiteres Autonomiegebiet um die Stadt Dschenin herum überlassen können, das flächenmäßig mehr als doppelt so groß wie der Gazastreifen ist. Ob die deutschen Berichterstatter friedens-unwilliger palästinensischer Propaganda zum Opfer fielen – oder durch ihre Berichterstattung mit dazu beitrugen, dass die Palästinenser den Wink des alten Fuchses mit dem Zaunpfahl in Richtung Verhandlungstisch nicht verstanden, bleibt Spekulation. Tatsache ist: Die Palästinenser haben die Gunst der Stunde nicht erkannt. Gaza ist heute Hochburg islamischer Extremisten und Dschenin noch immer unter israelischer Besatzung.
Gehasst und bewundert
Interessant ist schließlich, dass kaum ein Artikel die arabischen Freunde Scharons erwähnt – obwohl diese, durch ihre strahlend weißen Kopftücher weithin erkennbar, selbst bei den Beerdigungsfeierlichkeiten zugegen waren. Scharon wurde in der arabischen Welt nicht nur gehasst und verurteilt, sondern auch bewundert und sogar geliebt. Die Massaker von Sabra und Schatila wurden verübt von Menschen, deren Muttersprache Arabisch war. Das rechtfertigt sie nicht, stellt aber landläufige Pauschalisierungen in Frage. Als Ehud Barak im Mai 2000 die israelischen Truppen aus dem Südlibanon abzog, haben Libanesen, deren Muttersprache Arabisch ist, vorwurfsvoll-verzweifelt gefragt: „Wo bleibt Arik?!“
Scharon war Anfang der 1980er Jahre eine treibende Kraft der Siedlungsräumungen infolge des Friedensvertrags mit Ägypten – in dem auch eine politische Autonomie für die Palästinenser beschlossen worden war. Wenig mehr als zwei Jahrzehnte später sprach er als erster israelischer Premierminister auf einem Gipfeltreffen in Akaba vor den palästinensischen und amerikanischen Präsidenten und vor dem jordanischen König von der Errichtung eines palästinensischen Staates.
Dass Scharon Siedlungen räumen würde, sagte mir schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 2001 Dov „Dubak“ Weinstock. „Denk an Jamit!“, prophezeite der Siedlerführer aus dem Gusch Etzion und zeigte auf ein Schwarzweißbild vom Anfang der 1980er Jahre, als israelische Siedler im Sinai dem Frieden mit Ägypten weichen mussten. Ariel Scharon war der entscheidende Drahtzieher hinter dieser Aktion. Für „Dubak“ kam der Gazarückzug keineswegs überraschend, hatte „Arik“ auch in keiner Weise eine „Bekehrung“ oder auch nur ein Umdenken erlebt.
Liebgewonnene Stereotypen
Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ behauptete: „Der einst als Hardliner bekannte Scharon hatte sich kurz vor seiner schweren Erkrankung vor acht Jahren zum Friedensmacher gewandelt“. Dem setzt selbst der politisch eher links gerichtete und siedlerkritische Scharon-Berater Dov Weissglass entgegen: „Nicht Scharon hat sich verändert, wohl aber die Wirklichkeit“, um dann gleich hinzuzufügen, dass sein ehemaliger Boss zwar ein klares Ziel verfolgte, dabei aber niemals mit dem Kopf durch die Wand gegangen wäre. „Wir können alles mit Bajonetten erreichen“, habe Scharon gerne Napoleon zitiert, „nur nicht auf ihnen sitzen.“
Nicht wenigen deutschen Medienmachern scheinen die liebgewonnenen Stereotypen vom „Bulldozer“, „Hardliner“ oder „Schlächter von Beirut“ den Blick für die Realität vernebelt zu haben. Eine differenziertere Beschreibung der komplizierten Persönlichkeit Scharons, wie etwa in der italienischen Zeitung „Il Giornale“, die meint, Scharon sei „kein Falke gewesen, sondern eine Taube aus Stahl“, ist nur selten zu finden.
Dass Scharon für „die Massaker an Palästinensern in den Lagern Sabra und Schatila“ nie der Prozess gemacht wurde, wie in Deutschland zu hören war, stimmt schlicht nicht. Die Vorgänge im Sommer 1982 wurden juristisch untersucht. Scharon wurde „indirekte Verantwortung“ vorgeworfen, weil er die Rache für die Ermordung des libanesischen Politikers Baschir Dschumajel nicht vorhergesehen hatte. Dafür musste er seine politische Karriere unterbrechen. Rechtskräftig verurteilt wurde Scharon nie, weshalb jede Bezeichnung des Mannes als „Kriegsverbrecher“ eine außergerichtliche Vorverurteilung bleibt. In den USA gewann Scharon in dieser Angelegenheit gar einen Verleumdungsprozess gegen das renommierte „Time Magazine“.
Pessimist oder Realist?
Die „Süddeutsche Zeitung“ schließlich bezeichnet Scharon als „großen Pessimisten“. Als Begründung dafür lieferte sie eine Aussage Scharons, die er ein Jahr vor seinem Schlaganfall in einem Interview der „New York Times“ gemacht hatte: „Die Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten und Jordanien sind Verträge zwischen Staatschefs, keine Friedensabkommen zwischen Völkern und Nationen. Die arabische Welt ist noch nicht bereit, das Recht der Juden auf einen israelischen Staat in dieser Region anzuerkennen. Und ich bezweifle, dass sie es jemals sein werden.“
Die erste Aussage über die Friedensabkommen bestätigt fast jeder Passant auf den Straßen von Amman, Jerusalem oder Kairo. Die aktuellen Entwicklungen in der arabischen Welt scheinen dem alten Recken ebenfalls Recht zu geben. Dieser hat wohlgemerkt nicht davon geredet, dass heute weite Teile der arabischen Welt die Existenz eines jüdischen Staates im Nahen Osten anerkennen, sondern von einem „Recht der Juden auf einen israelischen Staat in dieser Region“. Ob der Zweifel im Blick auf künftige Entwicklungen gerechtfertigt war, wird die Zukunft erweisen – und damit auch, ob Scharon Pessimist oder Realist war.