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Hunderttausende bei Israels größtem Begräbnis

In Tränen aufgelöst schrie Rabbi Arie Deri: „Jetzt sind wir Vollwaisen.“ Der Vorsitzende der orientalisch-orthodoxen Schass-Partei hatte viele Gründe, den Tod der „größten Leuchte Israels seit Jahrhunderten“, des 93 Jahre alten Rabbiners Ovadia Josef, zu betrauern. Denn mit dem Ableben des geistlichen Anführers der Schass-Partei, der wie ein Heiliger verehrt wurde, ist in Israel eine Ära zu Ende gegangen.
Hunderttausende waren zur Beisetzung von Rabbi Josef nach Jerusalem gekommen - der Leichenwagen blieb immer wieder in der Menge stecken.

Der Tod des in Bagdad geborenen ehemaligen sephardischen Oberrabbiners bedeutet für Israel eine Zäsur. Die orientalischen Juden hatten bis in die achtziger Jahre hinein keinen Kopf und keine ausgeprägte religiöse Führung. Sie standen unter dem Diktat der aus Osteuropa geflohenen polnisch-litauischen Orthodoxie. Das ging so weit, dass bis heute fromme Juden aus Marokko, dem Irak oder aus Äthiopien die Tracht der sogenannten Ostjuden tragen: schwarze Filzhüte, altmodische Anzugsjacken und maßgeschneiderte schwarze Hosen. Die orientalischen Juden mussten ihre malerischen Gewänder ablegen, zugunsten dieser polnischen „Mode“ aus dem 19. Jahrhundert.

Liberale Richtsprüche

Als sephardischer Oberrabbiner hatte Ovadia Josef bedeutsame liberale Richtsprüche beschlossen. So hat er alle Frauen gefallener Soldaten des Jom-Kippur-Krieges zu Witwen erklärt und zur Wiederheirat freigegeben, obgleich viele Gefallene nicht eindeutig identifiziert und deshalb nicht offiziell für tot erklärt werden konnten. Später hatte er die äthiopischen Juden gegen den Widerstand der osteuropäischen Rabbiner für Juden erklärt, was deren Einwanderung nach Israel gemäß des Rückkehrgesetzes ermöglichte. Nur anerkannten Juden wird das Recht auf Einwanderung eingeräumt. Zunächst bestanden Zweifel, ob die „schwarzen Juden“ aus Afrika wirklich Teil des jüdischen Volkes seien, obgleich sie sich für die Nachkommen der Liebesaffäre von König Salomo mit der Königin von Saba halten.

Ein Heim für orientalische Juden

1984 löste Rabbi Josef mit der Gründung der Schass-Partei ein politisches Erdbeben aus. Er spaltete sich von den osteuropäischen, orthodoxen Parteien ab und bot erstmals den Frommen unter den „orientalischen“ Juden ein Heim. Die aus den arabischen Staaten vertriebenen Juden machten längst die Bevölkerungsmehrheit aus, fühlten sich aber diskriminiert und politisch nicht gebührend vertreten.
Die Schass-Partei, ähnlich wie die übrigen orthodoxen Parteien, ist hierarchisch strukturiert. Beschlüsse werden nicht demokratisch gefasst. Allein die Sprüche des „geistigen Oberhauptes“, Rabbi Josef, waren richtungsweisend. So konnte sich diese Partei als „Königsmacher“ seit ihrem Bestehen an fast allen Regierungen beteiligen, linken wie rechten. Deren fromm-orientalische Wählerschaft ist konservativ „rechts“ eingestellt, zumal diese Juden aus den arabischen Ländern, von Marokko über Ägypten, dem Jemen und dem Irak sehr schlechte Erinnerungen mitgebracht hatten und grundsätzlich allen Araber misstrauten, so auch den Palästinensern. Gleichwohl war der Parteiheilige durchaus offen für „linke“ Positionen. Zwar dürfe kein Teil des biblischen Landes Israel aufgegeben werden, aber für echten Frieden seien territoriale Konzessionen ein Gebot. Denn Menschenleben seien mehr wert als Landbesitz. So befürwortete Rabbi Josef den Rückzug aus dem Sinai zugunsten des Friedens mit Ägypten und die Osloer Verträge mit den Palästinensern, in deren Rahmen Israel biblische Städte wie Bethlehem, Hebron, Jericho und Sichem (Nablus) abgegeben hat.

Das Ende der Schass-Partei?

Der Tod des Rabbiners bedeutet wahrscheinlich das Ende der Schass-Partei. Es gibt keinen anerkannten Erben und ohne Rabbi Josef wirken die Parteipolitiker von Schass wie farblose und teils korrupte Aktivisten, die auf ihre Wähler nur eine geringe Ausstrahlungskraft haben.
Mit Ovadia Josef ist auch eine der kuriosesten Witzfiguren Israels in die „Talmudschule des Himmels“ aufgestiegen. Einerseits pilgerten alle Politiker zu ihm, um seinen Segen zu erhalten. Der nur drei Jahre jüngere Staatspräsident Schimon Peres hatte den Rabbi noch am Morgen seines Todes im Jerusalemer Hadassah-Krankenhaus besucht, dessen leblose Hand gedrückt und ihn auf die Stirn geküsst.

Umstrittene Äußerungen

Rabbi Josef war berühmt für seine „kräftigen Worte“. Ihm unangenehme Politiker wie Jossi Sarid kanzelte er als „verfluchte Diener des Teufels“ ab. Einer linken Politikerin, Schulamit Aloni, wünschte er den frühen Tod, um zu ihrem Gedenken ein Freudenfest zu veranstalten. Viele Besucher fertigte er, manchmal liebevoll gemeint, mit Ohrfeigen ab. Teil der israelischen Folklore ist sein Spruch, den er in altmodischem Hebräisch vor laufender Kamera einem Journalisten entgegen schleuderte: „Se Bachus“ (Geh hier raus, verschwinde).
Rabbi Josef hat bis zuletzt immer einen blauen Turban und ein mit Goldbrokat besticktes Gewand getragen, die Uniform des sephardischen Oberrabbiners. Ein weiteres Markenzeichen war seine rosa gefärbte Sonnenbrille und sein fast unverständliches Nuscheln.
Zu seinem Begräbnis sind nach Schätzungen der Polizei fast eine Million Menschen in Tausenden Bussen nach Jerusalem geströmt. Stundenlang meldete der Verkehrsfunk: „Starke Verstopfung“. Autofahrer sollten Jerusalem möglichst ganz meiden. Nachdem „die Sonne ausgeschaltet und sich die Finsternis über uns gelegt hat“, so einer der trauernden Rabbiner, blieb der blaue Totenwagen mit dem in Leichentücher eingewickelten auf einem „Bett“ liegenden Heiligen in der Menge stecken. Das verzögerte die Beerdigung um Stunden bis in die Nacht.

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