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Gefährliches Machtvakuum – Mursi und der Sinai

Der idyllische Landzipfel am Nordwestende des Indischen Ozeans mit seinen atemberaubenden Gebirgslandschaften, weiß schillernden Dünen, azurblauen Wassern und einzigartigen Korallenriffen weiß nicht so recht, ob er zu Asien oder Afrika gehören soll. Die schwer zugänglichen, zerklüfteten Gebirgslandschaften als Landbrücke zwischen drei Kontinenten sind nicht nur beliebtes Urlaubsparadies für Sonnenhungrige und geschichtsträchtige Fundgrube für Geologen, Archäologen und Historiker, sondern seit jeher auch Eldorado für Schmuggler, Flüchtlinge und Terroristen.
Der Sinai - ein zerklüftestes Gebiet

Am frühen Abend des 5. August eröffneten schwer bewaffnete und maskierte Dschihad-Kämpfer das Feuer auf ägyptische Soldaten, die in einer Armeestellung in der Grenzstadt Rafah im Nordosten der Halbinsel, ungefähr drei Kilometer vom Grenzübergang Karam Abu Salem, das Ramadan-Fasten brachen. Die Dschihadisten töteten 16 ägyptische Grenzer, brachten zwei Schützenpanzer in ihre Gewalt und durchbrachen mit ihrer Hilfe beim weiter südlich gelegenen Grenzübergang Kerem Schalom die Befestigungen zu israelischem Gebiet. Dort wurden die Angreifer von der israelischen Armee gestoppt und getötet.
Der oberste Armeerat in Ägypten vermutete, die palästinensische Hamas sei in den Anschlag verwickelt, weil vom Gazastreifen aus Mörsergranaten während des Durchbruchversuchs auf Israel gefeuert worden waren. Die ägyptische Presse mutmaßte, die Drahtzieher seien eine salafitische Organisation aus Gaza mit dem Namen al-Tawhid wal-Dschihad, deren Gründer Abu al-Walid al-Maqdisi drei Tage vor dem Anschlag von der Hamas aus dem Gefängnis entlassen worden war. Später stellte sich heraus, dass mindestens drei der Angreifer Ägypter waren, einige waren Dschihadisten, die kurz zuvor vom neu gewählten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi aus dem Gefängnis entlassen worden oder vorher während der Revolutionswirren aus ägyptischen Gefängnissen entflohen waren.
Misstrauen gegen Hamas
Per Facebook wurde Präsident Mursi aufgerufen, seinen Kontakt mit der Hamas in Gaza abzubrechen und an den Palästinensern in Gaza Rache zu üben. Uralte Feindschaften zwischen Ägyptern und den Gazabewohnern traten offen zu Tage. Die Hamas wurde beschuldigt, sie wolle den Sinai erobern und deponiere jetzt schon ihre Waffenarsenale auf der Halbinsel, um sie israelischen Angriffen zu entziehen.
Mit großem Misstrauen wird in Ägypten beobachtet, wie aus dem Gazastreifen im Sinai investiert wird, wie Gazaner und Sinaibeduinen heiraten und sich immer mehr Palästinenser auf der Halbinsel niederlassen. Geradezu surreal wirken die (An-)Klagen der Ägypter, die auf ihre eigene Not verweisen und den Wohlstand in Gaza anprangern. Offen wird gefragt, ob „die Arsenale von schweren Waffen, Raketen und Panzern, die aus dem Sudan und aus Libyen in den Sinai geschmuggelt wurden“, wirklich nur gegen Israel gerichtet seien, oder noch anderen Zwecken dienen sollten.
Die Hamas ihrerseits weist alle Anschuldigungen entschieden zurück und versprach gleich nach dem Anschlag uneingeschränkte Kooperation bei der Aufklärung. Hamas-Premierminister Ismail Hanije forderte ein Komitee zur ständigen Sicherheitskoordination zwischen Gaza und Kairo. Wenig später erschien eine hochrangige Delegation aus Gaza in der ägyptischen Hauptstadt, um das Feuer des Misstrauens zwischen den Brüdern zu löschen. Zu den Hamas-Delegierten gehörten der mysteriöse Kommandeur der Issadin Al-Kassam-Brigaden, Ahmed Dschabari, und der stellvertretende Chef des Hamas-Politbüros, Musa Abu Marsuk. Gemeinsam legten Hamas und Ägypter Anfang September Pläne vor, ähnlichen Anschlägen künftig zuvorzukommen.
Als eigentliche Schicksalswende erwies sich dieser Anschlag im „Dreiländereck Ägypten-Gaza-Israel“ aber im Rückblick auf die Beziehung zwischen dem Muslimbruder Mursi und den bis dahin alles entscheidenden ägyptischen Militärs – vielleicht sogar als entscheidender erster Schritt zur Auslösung eines Dominoeffekts, der die alten Machthaber am Nil bis Anfang September überraschend schnell zu Fall brachte. Drei Tage nach dem Anschlag schickte Mursi nämlich den für den Sinai verantwortlichen Geheimdienstchef Murad Muwafi in die Wüste; am 12. August die gesamte Militärführung.
Militäroffensive gegen „Kriminelle“
Mit der „Operation Adler“ waren zuvor Hunderte von Soldaten mit Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Kampfhubschraubern auf die Halbinsel geströmt, die nach den Abmachungen des israelisch-ägyptischen Friedensvertrags von 1979 eigentlich demilitarisiert sein sollte. Die ägyptische Militäroffensive wollte „Kriminelle konfrontieren“, ihre Verstecke – vor allem in den Hallal-Bergen – ausfindig machen, Verdächtige verhaften, ihre Waffen beschlagnahmen und so „Sicherheit und Stabilität wieder herstellen“. Manche Beduinenstämme streckten freiwillig die Waffen, so dass die Armee schon am 10. August bekanntgeben konnte, 20.000 Schusswaffen, dazu große Mengen schwerer Waffen und Munition, beschlagnahmt zu haben.
An der Grenze zum Gazastreifen galt die „Operation Adler“ den Tunneln, die dem Schmuggel von Waffen, Drogen, Menschen, Tieren (bis hin zu Elefanten für den Zoo in Chan Junis), gestohlenen Autos, Kriminellen und Dschihad-Kämpfern dienen. Die schätzungsweise über 1.000 Röhren ganz unterschiedlicher Ausführung sind die Lebensader des Gazastreifens und eine der Haupteinkommensquellen für die Hamas-Regierung. Laut ägyptischen Schätzungen erwirtschaftet die „Tunnelindustrie“ etwa eine Milliarde US-Dollar pro Jahr. Die ägyptische Tageszeitung „Al-Ahram“ schätzt, dass allein 2011 rund 13.000 Autos durch die Tunnel in den Gazastreifen überführt wurden. Dank der Tunnel kann der Gazastreifen – so Schätzungen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah – etwa 600 neue Millionäre vorweisen. Luxuskarossen und brandneue Villen im Sinai und Gazastreifen sprechen eine deutliche Sprache.
Am 28. August berichtete die ägyptische Zeitung „A-Schark al-Awsat“ von Verhandlungen zwischen Vertretern des Staates und dschihadistischen Gruppen im Sinai, um dem Blutvergießen eine Ende zu setzen. Einen Tag lang sollen etwa 50 Stammeshäuptlinge und Bandenchefs mit Vertretern der Armee und islamischen Geistlichen palavert haben. Aber die salafitischen Gruppierungen im Sinai sind zersplittert, untereinander zerstritten und haben keine gemeinsame Führung, mit der man effektiv verhandeln könnte. Zudem betonten Sicherheitskreise, „die Armee werde mit den Mördern ihrer Soldaten nicht verhandeln“.
In Israel beobachtete man den ägyptischen Aufmarsch im Sinai mit Stirnrunzeln. Israelische Vertreter bemängelten, dass die Ägypter sich nicht mit ihren israelischen Friedenspartnern abgesprochen hätten, wie das eigentlich in den Vertragswerken vorgesehen sei. Zudem wunderte man sich, dass zur Verfolgung von ein paar Dschihad-Gruppen schwere Panzer gebraucht würden. Israels Verteidigungsminister Ehud Barak meldete sich dann beruhigend zu Wort: Es sei klar, Ägypten bemühe sich, die Kontrolle über den Terror im Sinai zu gewinnen. Israel müsse diesen Versuch respektieren. Und Präsident Mursi versicherte – ohne Israel anzusprechen oder den Namen des verhassten Friedenspartners in den Mund zu nehmen – man respektiere auch während dieser Militärkampagne die internationalen Verträge.
Am 29. August zog die ägyptische Armee ihr schweres Kriegsgerät von der Grenze nach El-Arisch zurück. Auf einer Pressekonferenz verkündete sie, den Extremisten im Sinai einen entscheidenden Schlag zugefügt zu haben. Man habe 31 Tunnel zerstört, 32 „kriminelle Elemente“ getötet, einen verletzt, 38 verhaftet, 20 Fahrzeuge und Waffen – darunter automatische Waffen und Maschinengewehre, Luftabwehrgeschütze, Granaten und Panzerabwehrraketen, sowie fünf Kisten mit israelischer Munition – beschlagnahmt. Mursi verlautbarte zeitgleich, die Regierung in Kairo stelle umgerechnet 200 Millionen Euro zum Aufbau des jahrzehntelang vernachlässigten Gebietes zur Verfügung.
„Kräfte der Dschihadisten keineswegs gebrochen“
Stimmen aus dem Sinai, die sich weder Armee noch Staatsapparat verpflichtet sehen, bezweifeln die Erfolgsdarstellungen der Armee und halten die Zahlen für maßlos übertrieben. Tatsächlich zeigten die ersten Septemberwochen, dass die Kräfte der Dschihadisten keineswegs gebrochen sind und die Spannung auf der Halbinsel bleibt. Immer wieder kommt es zu Angriffen auf Straßensperren. So räumte etwa die Polizei in Scharm El-Scheich an der Südspitze des Sinai Anfang September kurzerhand alle Polizeiposten und Straßensperren aus Angst vor Rache, nachdem zuvor ein Beduine bei einer Schießerei mit der Polizei getötet worden war.
Terrorwarnungen bewirkten, dass Ägypten am letzten Augusttag entlang des Suezkanals den Ausnahmezustand erklärte und besondere Sicherheitsmaßnahmen verordnete, denen sich alle Arbeiter unterziehen mussten. Ein paar Tage später gestanden ägyptische Sicherheitsexperten offen ein, der Truppenrückzug sei eine Reaktion auf amerikanischen, israelischen und extrem-islamistischen Druck gewesen. Nach ihren Einschätzungen versteckten sich noch etwa 500 Dschihad-Kämpfer an sieben Orten im extrem schwer zugänglichen Zentralsinai.
In arabischen Medien verbreiteten sich Gerüchte, der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad mache im Sinai Jagd auf Dschihadisten, die sich an Anschlägen auf Israelis beteiligt hätten oder diese vorbereiteten. Sinai-Beduinen, die den Israelis bei diesen Aktionen geholfen haben sollen und erkannt wurden, sind entweder nach Israel geflohen oder wurden ermordet aufgefunden.
Angriffe auf Multinationale Beobachtertruppe
Gegen Ende der zweiten Septemberwoche waren dann die ägyptischen Panzer wieder auf dem Vormarsch in Richtung Osten. Dieses Mal, um die Stellung der Multinationalen Beobachtertruppe zu schützen. Bei Angriffen auf das Lager der Soldaten aus elf Ländern, die die Einhaltung der Bedingungen des israelisch-ägyptischen Friedensabkommens kontrollieren sollen, kam es zu Schusswechseln, auf einem Sicherheitsturm wurde die schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis gehisst und vier Truppenangehörige von den Fidschi-Inseln wurden verletzt. Am 16. September wurde eine Polizeistation in El-Arisch mit einer Panzerabwehrrakete beschossen. Zeitgleich wurden Schießereien aus anderen Teilen des Nordsinai berichtet. In Scheich Suwaid wurde ein Kampfhubschrauber der ägyptischen Armee getroffen.
Mohammed Mursi nutzte das offensichtliche Versagen der ägyptischen Armee nicht nur, um diese aus der Politik zu drängen, sondern stellte bei dieser Gelegenheit auch unter Beweis, dass er den Willen hat und in der Lage ist, wie sein Vorgänger, Terror zu bekämpfen. In den Augen seiner eigenen Bevölkerung, die das Friedensabkommen mit Israel und die damit zusammenhängende Demilitarisierung der Halbinsel nicht selten als Kapitulation vor dem dekadenten Westen betrachtet, konnte er zudem glaubhaft machen, dass Ägypten der Souverän im Sinai ist. Mursi bot mit der „Operation Adler“ nicht nur dem dschihadistischen Chaos die Stirn, sondern auch Israel und seinen westlichen Verbündeten und stellte so unter Beweis, dass er keine Geisel des Abkommens von Camp David ist.

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