Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatten klassische Reiseführer wie der „Baedecker“ auf Deutsch oder „Cooks“ auf Englisch noch nicht die neuesten Forschungsergebnisse britischer und deutscher Archäologen aufgegriffen und weiterhin die Pilger zum Zionsberg im Süden Jerusalems geschickt. Dort wurde nicht nur das Grab Davids, sondern auch der älteste Teil Jerusalems vermutet. Dabei hatten die ersten europäischen Archäologen in Jerusalem längst verstanden, dass sich die biblische Davidsstadt fast einen Kilometer entfernt südlich des Tempelberges befand. Nach Angaben von Historiker Schilo dauerte es fast fünfzig Jahre, bis die populären Reiseführer, erstmals 1906, die neueren Forschungen aufgegriffen haben.
Die Festlegung heiliger oder auch nur traditioneller Orte wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn des europäischen Pilgertourismus ins Heilige Land notwendig. Dazu gehörte die Schaffung von Infrastruktur wie Hotels, Restaurants und Andenkenläden. Schon in der byzantinischen Zeit gehörten zum Gepäck der Pilger auch Reiseführer, die ihnen den Weg zu den Besuchsstätten wiesen und diese erklärten.
Britische und deutsche Reiseführer ignorierten sich gegenseitig
Besonders in Jerusalem machten im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts britische und deutsche Forscher wie Charles Warren und Konrad Schick Entdeckungen, die das traditionelle Wissen um die Geographie der Heiligen Stätten revolutionierten. Schilo stellte fest, dass britische Reiseführer dieser Zeit neue Erkenntnisse der Deutschen zunächst ignorierten und umgekehrt.
Schilo hat seine Forschung auf die Entdeckung und Freilegung der Stadt Davids, des ältesten Teils Jerusalems, konzentriert. Dort werden bei fortlaufenden Ausgrabungen auch heute noch Funde gemacht, die für Wanderer auf den Spuren der Bibel von höchstem Interesse sind. So hat die Archäologin Eilat Masar über einer schrägen Stützmauer, angeblich aus der Zeit der Jebusiter, ein Gebäude mit monumentalen Mauern entdeckt. Masar identifizierte den Bau als den „Palast des Königs David“, während andere Archäologen vorsichtiger sind und von einem 3.000 Jahre alten Verwaltungsgebäude reden. Jedenfalls hat der Zionsberg durch das „Wandern“ der Davidsstadt infolge der wissenschaftlichen Forschungen einen Teil seiner alten „Heiligkeit“ verloren. Bis heute wird dort das vermeintliche Grab des David verehrt, während ein Stockwerk darüber der von Kreuzfahrern errichtete Saal des Letzten Abendmahls Jesu zum Standardprogramm christlicher Besucher zählt.
Ein ähnliches Phänomen kann man auch an anderen Stellen bemerken. So war in byzantinischer Zeit die „Kathisma“, also jener Felsen, auf dem die schwangere Maria auf ihrem Weg nach Bethlehem „ruhte“, ein wichtiges Pilgerziel, überbaut von einer oktogonalen Basilika mit den Maßen der Grabeskirche und des Felsendoms. Diese Stätte entstand, um die Pilger stundenlang aufzuhalten, damit sie in Bethlehem übernachten und ihr Geld ausgeben mussten, anstatt noch am gleichen Tag nach Jerusalem zurückzukehren. Die Grundmauern mitsamt Mosaiken und der Felsen sind ausgegraben worden, aber die Pilgerstätte ist in Vergessenheit geraten, vielleicht auch, weil sie in modernen Reiseführern (noch) nicht erwähnt wird.
Ein inzwischen klassisches Beispiel für das „Wandern“ einer heiligen Stätte bietet der Siloah-Teich, wo Jesus den Blinden heilte. Die Byzantiner errichteten eine Kirche über einem Teich, der sich mitten im Schutt des zerstörten Tempelberges gebildet hatte. Aber Ausgrabungen vor einigen Jahren führten zur Wiederentdeckung des originalen Siloah-Teiches zu Füßen der Davidsstadt, einige hundert Meter von der Kirche entfernt. Die neue „Heilige Stätte“ ist von Pilgern und Reiseführern inzwischen voll angenommen worden, zumal sie dort auf den alten breiten Stufen wie in einem Amphitheater sitzen können.
„Neue“ Heilige Stätten dank Tourismusministerium
Dann gibt es aber auch „neue“ Heilige Stätten, die dank Investitionen des Tourismusministeriums zu neuem Leben erweckt worden sind, nachdem sie wegen militärischer Sperrzonen im Grenzgebiet oder durch Vernachlässigung jahrelang unzugänglich waren. Dazu gehören die traditionelle Taufstätte Jesu am unteren Jordan und die inzwischen mit einem Mosaikmuseum ausgestattete „Herberge des Guten Samariters“. Eine der berühmtesten Neuschöpfungen Heiliger Stätten ist freilich die Via Dolorosa im 13. Jahrhundert. Ganz zufällig führt sie von einer katholischen Kirche zur nächsten und hat mit absoluter Sicherheit nichts mit dem originalen Leidensweg Jesu vom Prätorium des Pontius Pilatus zum Golgatha-Hügel der Kreuzigung zu tun. Denn heute ist klar, dass Pontius Pilatus beim Jaffa-Tor seine Hände in Unschuld gewaschen hat und nicht in der Antoniaburg nahe dem frisch renovierten Löwentor am anderen Ende der Altstadt Jerusalems.