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Aspekte eines „Arabischen Sommers“

Während der ganze Orient wegen einer frühsommerlichen Hitzewelle stöhnt – im Arabischen Golf stiegen die Temperaturen im Schatten bis auf 50 Grad Celsius –, wird der „arabische Frühling“ immer mehr zu einem Sommer, der jedes Leben gnadenlos verbrennt oder unter die Erdoberfläche verdrängt.
Auch Christen leiden unter der Lage in Syrien.

Acht Monate nach dem Sturz von Muammar Gaddafi werden aus Libyen gewalttätige Zusammenstöße gemeldet. Es gibt Tote und Verletzte. Spannungen, die seit Monaten, vielleicht gar Jahren, schwelen, führen zu gewalttätigen Ausbrüchen. Die Armee will – notfalls mit Gewalt – Ruhe herstellen. Doch die Interimsregierung tut sich schwer, ihre Autorität über die unzähligen bewaffneten Gruppierungen auszuüben, deren Stammesfehden sich zum Teil seit Jahrhunderten hinziehen.
Im benachbarten Ägypten war im Februar 2011 Hosni Mubarak entmachtet worden. Der „Tahrir-Platz“ („Platz der Freiheit“) im Zentrum von Kairo und seine Demonstrationen wurden sprichwörtlich für den „arabischen Frühling“ weltweit bekannt und bewundert. Doch die uralte Zivilisation am Nil versinkt immer mehr im Chaos. Im Frühsommer 2012 hat das Land weder Verfassung noch Parlament.

Die Präsidentschaftswahlen Mitte Juni haben gezeigt, wie tief der Machtkampf zwischen Armee und Islamisten das Volk spaltet. Die einen fürchten eine Rückkehr zur alten Diktatur, andere, dass Muslimbruderschaft und Salafisten ihre persönlichen Freiheiten einschränken werden. Wir haben nur „die Wahl zwischen dem, der Demonstranten getötet hat, und dem, der auf ihrem Blut getanzt hat“, bringt ein frustrierter junger Mann die Stichwahl zwischen Mubaraks letztem Premier, Achmed Schafik, und dem Muslimbruder Mohammed Morsi auf den Punkt. Am Wahltag bekannte die Christin Rhonda aus Kairo: „Wenn Achmed Schafik verliert, werde ich Ägypten verlassen.“ Etwa zehn Prozent der Ägypter sind koptische Christen. Mittlerweile wird ganz offen gemunkelt, der Höchste Rat der Streitkräfte (SCAF – Supreme Council of the Armed Forces) führe in aller Stille eine Gegenrevolution durch.
In Syrien eskaliert die Gewalt. Die 300 Beobachter der UNSMIS (United Nations Supervision Mission in Syria – UNO-Beobachtermission in Syrien) haben die Hände gehoben. Der norwegische Generalmajor Robert Mood beklagt die Eskalation und den Friedensunwillen auf allen Seiten. Es ist im Nahen Osten schon fast Ritual: Wenn das Elend Überhand nimmt, zieht sich die internationale Gemeinschaft hilflos zurück. Die Resolutionen 2042 und 2043 des UNO-Sicherheitsrats haben einen politischen Übergang in Syrien gefordert. Jetzt erleiden sie das Schicksal der meisten derartigen Beschlüsse und werden vor Ort schlicht ignoriert. Mindestens 14.400 Tote sind seit Ausbruch des „syrischen Frühlings“ im März 2011 zu beklagen. Namen wie „Hula“ oder „Qubeir“ stehen für grauenvolle Massaker an Frauen, Männern, Alten und Kindern. Rebellen und Regierung schieben sich gegenseitig die Schuld dafür in die Schuhe. Über Syrien liegt der „Gestank des Todes“, meint ein UNO-Beobachter. Die Widerstandshochburg Homs wird von 30.000 Assad-treuen Soldaten und Milizionären belagert und mit schwerer Artillerie beschossen.

Im türkischen Istanbul verhandeln syrische Oppositionsführer miteinander um eine einende Vision, erkennen dabei aber immer mehr Spaltungen in den eigenen Reihen. Außer den unterschiedlichen politisch-ideologischen Überzeugungen suchen Araber, Kurden, Sunniten, Alawiten, Christen und Drusen – um nur die größten Fraktionen zu nennen – nach einem Nenner für eine gemeinsame Zukunft. Die USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Saudi-Arabien, Türkei, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate sind mit hochrangigen Diplomaten vertreten.
Zeitgleich fordert im Irak der Terror Hunderte von Todesopfern. Mal werden 26 Tote gemeldet, dann 70, dann wieder „nur“ 12 oder 14. Die Zahl der Verletzten – die meist ein ganzes Leben an den Folgen eines solchen Erlebnisses zu tragen haben – übersteigt die der Todesopfer in den meisten Fällen um das Vier- oder Fünffache. Aber wenn sich in Bagdad sunnitische Selbstmordattentäter unter schiitische Pilger mischen und in die Luft sprengen, werden Journalisten müde zu zählen. Niemanden interessiert der blutige Alltag im Zweistromland, wo Schiiten, Sunniten und Kurden einander zerfleischen. An die Bilder von herumliegenden Schuhen, Kleidungsstücken, Plastiktüten, Körperteilen, zerfetzten Autos, zerrissenen Häuserfassaden und metertiefen Kratern auf den Straßen hat man sich schon fast gewöhnt. „Al-Qaida“ soll verantwortlich sein – wer oder was auch immer sich noch hinter diesem Namen verbirgt. Allein in den Jahren 2006 und 2007 kamen im Irak Zehntausende ums Leben – während man sich im Westen den Kopf zu zerbrechen pflegt, ob dies nun noch als „gewalttätige Auseinandersetzung“ zu gelten habe, oder schon „Bürgerkrieg“ sei.

Hinter derlei nackten Zahlen und Kurzmeldungen – die in den meisten Fällen keinesfalls als gesichert gelten können – verbirgt sich eine Unzahl persönlicher Schicksale. Ganze Bevölkerungsstrukturen werden umgekrempelt. So berichtete die vatikanische Nachrichtenagentur „Agenzia Fides“ zu Beginn der dritten Juniwoche, ein Rebellenführer habe den Christen in dem südwestsyrischen Städtchen Al-Qusayr ein Ultimatum gestellt. Von den Moscheen der Stadt sei verkündet worden: „Christen müssen Qusayr verlassen!“ Bis zum Donnerstag, dem 7. Juni 2012, dem Ablauf des Ultimatums, hätte der überwiegende Großteil der ursprünglich 10.000 Christen von Al-Qusayr die Stadt verlassen. Nicht verifizierbaren Berichten zufolge gibt es unter den Rebellen in Qusayr extreme Islamisten, die Christen für „[von der wahren Religion] Abgefallene“ halten, ihren Besitz konfiszieren und auch Hinrichtungen durchführen. Laut Zeugenaussagen, die von „Agenzia Fides“ zitiert werden, stehe ein Religionskrieg vor der Tür.
In der Stadt, die etwa 30 Kilometer südwestlich von Homs liegt, liefern sich Rebellen und regierungstreue Truppen seit Monaten heftige Kämpfe. Die Stadt liegt unweit der Nordost-Ecke des benachbarten Libanon und hat deshalb eine hohe strategische Bedeutung als Schmugglerhochburg und Umschlagplatz für Drogen, Waffen und Medikamente. Unklar ist, warum die Christen gerade jetzt zum Verlassen ihrer Heimat aufgefordert wurden. Manche meinen, es sei zu ihrem Schutz. Andere sehen eine kontinuierliche Zunahme von Diskriminierung und Unterdrückung. Eine dritte Erklärung ist, dass syrische Christen offen ihre Loyalität zur Regierung Assad zum Ausdruck gebracht haben und dafür nun den Preis bezahlen müssen.
Syriens Christen stellen ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung dar und fürchten eine Machtübernahme der Islamisten wie 2003 im Irak, nachdem Saddam Hussein durch die amerikanische Invasion gestürzt worden war. Dort hatten Extremisten Bombenanschläge auf Kirchen verübt und Geschäfte von Christen in Brand gesteckt. Hunderttausende von irakischen Christen waren daraufhin geflohen – viele von ihnen nach Syrien, das bislang als sicherer Zufluchtsort für Christen galt.
Oppositionskräfte in Syrien betonen, dass sie es nicht auf Minderheiten abgesehen hätten, sondern nach der Entmachtung von Baschar al-Assad eine demokratische Gesellschaft aufzubauen gedächten. Seit fast einem halben Jahrhundert unterdrückt die alawitische Minderheit, zu der der Clan der Assads gehört, in Syrien die sunnitische Bevölkerungsmehrheit. Die Alawiten sind eine Abspaltung des schiitischen Islam.

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