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Israel und die Holocaustkultur

Der Holocaust-Gedenktag wird in Israel nicht am 27. Januar begangen, sondern gemäß dem Hebräischen Kalender am Tag des Falls des Warschauer Ghettos 1944, dem einzigen großen jüdischen Aufstand gegen die Todeswut der Nazis. Von 198.000 in Israel noch lebenden "Zeitzeugen", wie man in Deutschland die Opfer der Konzentrations- und Vernichtungslager nennt, lebt die Hälfte in peinlicher Armut, vereinsamt, auf psychologische Hilfe angewiesen und kaum fähig, Strom- und Wasserrechnungen zu zahlen.

Zeremonien in der zentralen Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem Yad Vashem, 48 Stunden ununterbrochene Berieselung des Fernsehpublikums mit Dokumentarfilmen, Interviews und herzzerbrechender Schilderungen von Einzelschicksalen sind auch Anstoß für kontroverse Diskussionen über das Verhältnis zur Schoah.
 
Die israelische Regierung beschließt populistisch eine Erhöhung der Zuwendungen an 8.500 Überlebende um 110 Euro pro Person und Monat. Das ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn die Überlebenden sind allesamt über siebzig Jahre alt, gebrechlich und oft nur mit einer minimalen Rente ausgestattet. Viele sind nicht anerkannt, weil sie sich irgendwie retten konnten, den Krieg in Sibirien überlebten, anstatt den Gang durch Theresienstadt, Mauthausen, Auschwitz und Neuengamme mit entsprechenden psychischen Schäden überstanden zu haben. Die Israelin Eti Polak beispielsweise wurde auf der Flucht vor den Nazis als Baby in die eisige Wolga geworfen. Dabei erfroren ihre Füße. Heute kann sie nicht mehr laufen, ist aber als "Holocaustüberlebende" nicht anerkannt.

Während Premierminister Benjamin Netanjahu Pluspunkte erntet, kürzte die 2007 gegründete "Gesellschaft zur Erstattung von Eigentum" mangels Geldern ihre jährlichen Zuwendungen an Tausende Überlebende um 20 Prozent von 1.100 Euro auf 800 Euro. "Viele dieser Menschen, denen der Staat Israel seine Existenz zu verdanken hat, nagen heute am Hungertuch", empörte sich die ehemalige Oberrichterin Dalia Dorner.

Die Erinnerungskultur wird in Israel hochgehalten. Schulklassen und Militäreinheiten reisen nach Auschwitz. Aber es kommen auch Fragen zu dem "vergessenen Holocaust" in Nordafrika auf. Auch dort errichteten die Nazis Lager für Juden. Doch die Vergangenheit der nordafrikanischen Juden ist kaum aufgearbeitet. Kaum beachtet wird das Schicksal jüdischer Gemeinden in der arabischen Welt, von Algerien über Libyen, dem Jemen und bis in den Irak. Hunderttausende Juden haben in diesen Ländern 2.500 Jahre lang gelebt. Teilweise infolge der Nazipropaganda wurden sie schon in den 1940er Jahren Opfer blutiger Pogrome. Spätestens in den 1960er Jahren war die "ethnische Säuberung" der Juden in den arabischen Länder fast perfekt. Libyen ist komplett "judenrein", im Irak gibt es noch 13 Juden, in Afghanistan 2 und im Jemen bestenfalls 300.
 
Aber auch andere jüdische Gemeinschaften haben in jüngster Zeit Tod und Verfolgung erlebt. Die äthiopischen Juden flohen in den 1990er Jahren zu Fuß durch die Wüste des Sudan nach "Zion". Tausende kamen ums Leben. 1990 wurden fast alle zurückgebliebenen 13.000 äthiopischen Juden in einer gewagten Aktion an einem einzigen Wochenende von Israels kompletter Luftflotte heimlich ausgeflogen. Äthiopische Jugendliche können sich bei einem Besuch in Yad Vashem mit ihrem eigenen Schicksal identifizieren, aber die offizielle Gedenkkultur hat weder die Iraker noch die Jemeniten oder die Äthiopier integriert in das Gedenken an die "größte Katastrophe der Menschheit, die jemals einem Volk widerfahren ist, nämlich dem Versuch, es wegen seiner Identität auszulöschen", so Rachel Elior, Professorin für Judaistik an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Abraham Burg, ehemaliger Knessetvorsitzender, fragte in einer Fernsehdiskussion, ob Politiker sich heute noch bei tagesaktuellen Themen auf den Holocaust berufen dürften. Burg beklagte dadurch eine Entwertung der Einzigartigkeit des Holocaust, während Elior konterte, dass heute einzig der jüdische Staat Israel mit physischer Auslöschung bedroht werde, etwa durch den Iran, die Hisbollah oder die Hamas. "Es ist undenkbar, dem jüdischen Volk zu versagen, ein konstituierendes Trauma seiner Geschichte zu verbieten." Kein anderes Volk auf Erden sei derart bis heute mit Existenzangst konfrontiert.
 
Premierminister Netanjahu, und Jahre zuvor Menachem Begin, wurde vorgeworfen, mit Blick auf eine atomare Bedrohung des Staates Israel "keinen zweiten Holocaust" zulassen zu wollen. Israel, etwa so groß wie Hessen, könnte durch eine einzige Atombombe ausgelöscht werden und wird deshalb auch "Ein-Bomben-Staat" genannt.
 
Im Rahmen der Schoah wurden sechs Millionen Juden vernichtet. Im Staat Israel leben heute fast sechs Millionen Juden, von denen die Hälfte aus islamischen und arabischen Staaten stammt. Eine einzige Atombombe auf Tel Aviv würde das Ende des jüdischen Staates bedeuten. Der bietet jedoch den Juden erstmals seit 2.000 Jahren die Fähigkeit, nicht mehr der Willkür fremder Völker ausgeliefert zu sein. Netanjahus Vorwurf an die Amerikaner, nicht einmal die Eisenbahnschienen nach Auschwitz bombardiert zu haben, und seine zweideutige Aussage, eine iranische Atombombe "nicht akzeptieren" zu wollen, ist für fast jeden Israeli angesichts des kollektiven Volksempfindens eine durchaus reale Analogie. "Wir Juden können immer noch nicht sicher und in Frieden leben. Wir müssen weiterhin unsere Jugend zum Kampf für das pure Überleben erziehen", sagte Jehuda Baumel, Holocaustüberlebender und Vater eines gefallenen Soldaten.

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