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Dem Vergessen einen Strich durch die Rechnung machen

Yad Vashem, die zentrale Holocaustgedenkstätte des Staates Israel, ist ein Muss für jeden Israelbesucher. Kein führender Politiker oder hochrangiger Geistlicher kann es sich leisten, den jüdischen Staat zu besuchen, ohne einen Kranz in der Halle des Gedenkens neben der ewigen Flamme niederzulegen oder sich in der Halle der Namen fotografieren zu lassen.

Niemand bleibt unberührt beim Gang durch das Museum, das sich wie ein Pfeil durch den Bergrücken im Westen Jerusalems bohrt und die Geschichte des nationalsozialistischen Völkermords auf sehr persönliche Weise nachzeichnet. Der Name der Gedenkstätte ist dem biblischen Buch des Propheten Jesaja entnommen, wo der Gott Israels verspricht, Menschen "in meinem Hause und in meinen Mauern Yad VaShem" – "ein Denkmal und einen Namen" – zu geben. Danach heißt es: "Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll" (Jesaja 56,5).

Debbie Berman hat sich zur Aufgabe gemacht, die Namen derer ausfindig zu machen, die im nationalsozialistischen Völkermord ihr Leben verloren haben. Seit 1955 sammelt und archiviert Yad Vashem die Namen von Holocaustopfern. Seit 2004 sind alle Daten digitalisiert. Von den schätzungsweise sechs Millionen Holocaustopfern sind mehr als vier Millionen namentlich registriert. Zwei Millionen Namen fehlen noch. Berman arbeitet seit 2006 in Yad Vashem, heute als Projekt-Koordinatorin für die Erhaltung der Namen von Opfern der Schoah, wie der Holocaust auf Hebräisch genannt wird. Die modern-orthodoxe Mutter von vier Kindern betrachtet ihren Wettlauf gegen die Zeit und das Vergessen als Familienprojekt, als Mission und ganz einfach als Vorrecht.

Bermans Eltern und Großeltern sind selbst Holocaustüberlebende. Aber keiner wollte erzählen, was sie in den Konzentrationslagern, auf der Flucht oder im jahrelangen Versteck durchgemacht haben. "Emma Salgo war voller Leben, Freude und Lachen", erklärt Debbie Berman das Schweigen ihrer Großmutter, "das wollte sie uns weitergeben – nicht die Geschichten von Verfolgung, Qual und Tod." Deshalb hat sie ihren Kindern und Enkeln nie erzählt, was sie im Arbeitslager Kaufring, einer Außenstelle des KZ Dachau, erlebt hat. Im November 1944 war sie dorthin deportiert worden. Ihrem Mann Chaim war die Flucht in die Schweiz gelungen. Die Kinder, Robbi und Schoschanna, wurden in Budapest versteckt.

Hilfe beim Ausfüllen der Fragebögen

Dass Überlebende der Schoah nicht über die Vergangenheit reden wollen, ist nicht ungewöhnlich. Eine Antwort auf die Frage nach dem Grund dafür ist nicht leicht zu finden. "Viele haben nie wirklich um ihre Lieben trauern können. Der Verlust war einfach überwältigend", meint Debbie Berman, "manchmal kann eine einzige Person fünfzig, sechzig oder gar achtzig Namen aus dem engeren Verwandtenkreis nennen, die in der Schoah ihr Leben verloren haben." Manche hoffen immer noch, vermisste Familienmitglieder und Freunde wiederzufinden. Berman hilft Überlebenden, Fragebögen zu vermissten Schoahopfern auszufüllen. "Den Satz ‚Mendel ist tot‘ zu denken, auszusprechen, aufzuschreiben und dann auch noch eine Unterschrift unter ein Formular zu machen, erscheint ihnen unmöglich", erzählt die junge Frau aus ihrer Arbeit. "Für viele ist es zu schmerzhaft, zu den Erinnerungen zurückzugehen, noch einmal miterleben zu müssen, wie geliebte Menschen ermordet oder gequält wurden."

Doch dann ist es immer wieder eine gewaltige Erleichterung für diese Menschen, die Jahrzehnte lang eine unglaubliche, erdrückende Last mit sich herumgetragen haben, den Fragebogen von Yad Vashem ausfüllen zu können. "Wir nennen die Zeugnisbögen auch ‚virtuelle Grabsteine’", erklärt Berman: "Es ist wichtig, dass da ein Name steht, wenn möglich ein Foto; dass die Erinnerungen ausgesprochen und aufgeschrieben werden, um so dem Bemühen der Deutschen, uns zu einer Nummer zu degradieren, uns zu vernichten, unseren Namen auszuradieren, einen Strich durch die Rechnung zu machen." Yad Vashem bildet seine Volontäre, die weltweit im Einsatz sind, sorgfältig aus, bevor sie Holocaustüberlebenden beim Ausfüllen der Fragebögen helfen.

Berman erzählt, wie ihre eigene Mutter anfangs auch nicht erzählen wollte. "Ich erinnere mich an nichts. Ich weiß nichts Wesentliches", hatte sie immer wieder betont. Doch dann fuhren Mutter und Tochter nach Budapest, wo die Mutter als kleines Mädchen vor den Nazi-Schergen versteckt worden war. "Intuitiv kannte sie sich aus, wusste genau, wo der Bahnhof sein musste", erinnert sich Debbie Berman an die gemeinsame Fahrt zu den Kindheitsorten ihrer Mutter. Schließlich umfassten die Erinnerungen der Mutter dreizehn Seiten – und die Erinnerungen wurden bestätigt. Das Online-Archiv von Yad Vashem fand Verbindungen zu weiteren Verwandten und stellte fest, dass Debbies Urgroßmutter, Theresa Salgo-Rottenberg, eine Erinnerungsseite für ihren Sohn eingereicht hatte.

Debbies Vater, Simon Deutsch, wurde wie die Mutter von Nichtjuden gerettet. Debbie kennt die Namen der Retter ihrer Eltern. Es war der Portugiese Sousa Mendes, der ihrem Vater nach der Flucht aus dem von Deutschen besetzten Antwerpen das Überleben und einen Neuanfang im fernen Amerika ermöglichte. In den Archiven von Yad Vashem begegnete Berman schließlich noch einem Onkel ihres Vaters, dem Künstler Carol Deutsch. Seine Tochter Ingrid hatte in einem Versteck überlebt und 99 Illustrationen biblischer Geschichten ihres Vaters gerettet. Sie werden jetzt in Yad Vashem ausgestellt.

Familien "werden geboren"

Immer wieder kommt es vor, dass Berman miterleben darf, wie Menschen Tote suchen und Lebende finden – etwa Liora Tamir, die als Vollwaise in der sowjetischen Gulagstadt Workuta und später in einem Waisenhaus in Leningrad aufgewachsen war. Tamir lebte in der Annahme, ihre gesamte Familie sei ausgerottet worden. Bis eines Tages ihre Tochter Ilana durch Nachforschungen in den Archiven des russischen Geheimdienstes KGB, in Yad Vashem und über Facebook herausfand, dass Lioras Mutter als kommunistische Aktivistin in den 1920er Jahren das Britische Mandatsgebiet Palästina bereist hatte. Von den Briten wurde sie als Kommunistin deportiert und von den Sowjets schließlich in den Gulag verbannt, wo Liora 1946 geboren wurde. Zum Schlüssel der Nachforschungen von Ilana Tamir wurde ein Eintrag in Yad Vashem, den Lioras Onkel Simcha Shikler 1956 veranlasst hatte. So wurde der Frau, die sich mutterseelenallein glaubte, "eine Familie geboren", wie ihre Tochter Ilana im Rückblick treffend formulierte.

Auf wunderbare Weise überlebte die ganze Familie von Debbie Berman und wurde nach dem Krieg wiedervereint. Die Großmutter hatte es irgendwie geschafft, durch die gesamte Leidenszeit im deutschen Konzentrationslager ein kleines rosa Kleid ihrer Tochter zu bewahren. "Es war ein Hoffnungsschimmer inmitten des erlebten Albtraums." Bevor Debbie 1992 nach Israel einwanderte, schenkte die Mutter ihr das rosa Kleidchen. "Ich habe es all diese Jahre aufbewahrt und dann einmal meiner kleinen Tochter Emma, die nach ihrer Großmutter genannt wurde, angezogen", erzählt sie heute. "Als ich meine eigene Tochter in diesem Kleidchen spielen und lachen sah, wurde mir plötzlich klar, was für ein Schmerz es für meine Großmutter gewesen sein muss, so lange und unter solchen Umständen von ihren Kindern getrennt sein zu müssen." 2010 feierte Emma Berman ihren zwölften Geburtstag, ihre Bat-Mizwa. Aus diesem Anlass vermachte die Familie das geschichtsträchtige Familienkleidungsstück der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. "Ich denke, hier ist es am besten aufgehoben", meint Debbie, der man die tiefe emotionale Bindung an das Kleid bis heute abspürt.

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