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Zwischen zwei Kulturen

In Deutschland aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verfolgt, in Israel wegen der "Sprache des Feindes" beschimpft: Juden deutscher Herkunft hatten es in der NS-Zeit äußerst schwer. Im Buch "In Deutschland eine Jüdin - eine Jeckete in Israel" kommen 16 Frauen zu Wort, die genau das erlebt haben - und lassen deutsche Dialekte der 1930er-Jahre wieder lebendig werden.

Manche Bücher sind spannend, obwohl das Ende bekannt ist. Dieses hier gehört dazu. Denn der Leser weiß, dass jede der Frauen die Judenverfolgung der Nazis überlebt hat. Aber wie sie es geschafft haben, rechtzeitig aus Deutschland herauszukommen, was ihren Familien widerfahren ist und wie sie sich im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina einleben konnten, erfährt er erst durch die Lektüre. "Manchmal spürt man in ihren Schilderungen die Sehnsucht nach der deutschen Kultur, an die sie und ihre Eltern so lange geglaubt haben, ehe sie Opfer deutscher Barbarei wurden", schreibt der Fernsehmoderator Günther Jauch in seinem Vorwort. "Es sind nur noch wenige, die Zeugnis geben können. Mögen sie noch lange leben und auch mithilfe dieses Buches die Erinnerung an das schrecklichste Kapitel unserer Geschichte aufrechterhalten." Wer den aufrichtigen Wunsch hat, Wesentliches über die Zeit der Judenvernichtung zu erfahren, findet in den anschaulichen und sehr persönlichen Erzählungen der Frauen durchaus Antworten.

"Um die Authentizität zu erhalten", hat Herausgeberin Andrea von Treuenfeld dafür gesorgt, dass Wortwahl und Satzstellung weitgehend unverändert blieben – "und damit in den meisten Fällen auch das Deutsch der 1930er-Jahre", wie sie in ihrer Einführung anmerkt. Die originale Sprache verleiht dem Buch einen besonderen Charme. So erzählt Oda Kissinger aus Saarbrücken: "Meine Eltern haben dann ‘35 beschlossen, sie gehen nach Luxemburg. Man hat doch nicht gedacht, dass der Herr Hitler ganz Europa frisst. Luxemburg war ein anderes Land, war doch nicht Deutschland. Aber es war deutschsprachig. Die Eltern konnten keine Fremdsprache, sprachen ein bissel Englisch, das war‘s." Sie mussten sparen, die 13-Jährige besuchte eine Handelsschule: "Es war natürlich immer alles gehemmt wegen des Geldes. Die anderen gingen ins Kino, bin ich nicht mitgegangen. Das ist bitter, wenn man jung ist." Doch in Luxemburg bekamen sie immerhin bis zu ihrer Ausreise nach Palästina im Februar 1939 keine antisemitische Bemerkung zu hören.

Deutsche Anteilnahme

Die Frauen berichten von Diskriminierung und Anfeindung im Deutschen Reich, aber auch von Solidarität und Hilfsbereitschaft. Die Duisburgerin Miriam Bettelheim reiste vor ihren Eltern aus und erfuhr Anteilnahme von ihrer nichtjüdischen Schulkameradin: "Eine Freundin, die bis zuletzt zu mir und zu meiner Familie gehalten hat und nach dem Krieg sofort die Beziehung wieder aufgenommen hat, sorgte für meine Eltern, als ich schon weg war." Und Sara Singer aus Dortmund schildert, wie ein 18-jähriger Junge, der zuvor mit ihrer Familie befreundet gewesen war und mittlerweile Uniform trug, sich dennoch schützend vor sie stellte: "Und wie sie gekommen sind, abzuholen meinen Vater, der sich versteckt hatte, hat dieser Junge vor dem Haus gestanden und gesagt: ‚Bei uns wohnen keine Juden!’"

Shoshanna Friedländer wurde in Witzenhausen von ihrer Lehrerin vor den Mitschülerinnen in Schutz genommen. Ihre Familie verließ Deutschland, nachdem der Vater vorübergehend in Buchenwald inhaftiert gewesen war.
Bereits Anfang der 20er-Jahre hatte der Vater von Esther Herlitz erkannt: "Es gibt keine Zukunft für Juden in Europa." Und so machte sich ihre Familie schon Ende 1933 auf den Weg von Berlin nach Palästina – mit 45 Kisten. Durch diesen Weitblick mussten sie keine wichtigen materiellen Güter in Deutschland zurücklassen. Doch in Jerusalem wurde die Schülerin zu ihrem Entsetzen als "Nazi" beschimpft: "Da bin ich eine Woche nicht in die Schule gegangen, und mein Vater hat mit dem Schuldirektor gesprochen und eine große Sache daraus gemacht, dass man zu jüdischen Kindern in Jerusalem ‚Nazis‘ sagt. Ich erinnere mich bis an den heutigen Tag an die einzige eingesessene Schülerin dieser Klasse, die mich zu ihrem Geburtstag eingeladen hat. Mit ihr bin ich bis heute befreundet."

Ähnliche Erfahrungen machte die Berlinerin Ester Golan bei ihrer Zwischenstation in England: "In Deutschland waren wir die Juden, in England die Deutschen. Obwohl man uns dort aufgenommen hat, weil wir Kinder, Flüchtlingskinder, waren, hat man uns nicht sehr gern gehabt – weder die Engländer noch die Juden in England, die meinten, dass zu viele Juden zu viel Antisemitismus bringen. Außerdem gehörten wir den Gegnern an, wurden als ‚feindliche Fremde‘ bezeichnet."

Für alle Frauen war die Reise nach Paläs­tina eine mehr oder weniger abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse. Die meisten mussten sich nach ihrer Ankunft irgendwie durchschlagen. Oft war ihre Ausbildung jäh unterbrochen, eine Fortführung nicht möglich. Doch mit viel Kreativität fanden diese Jüdinnen Wege, ihre Begabungen und Kenntnisse nutzbringend einzusetzen – und das trotz der Vorurteile, die ihnen aufgrund ihrer deutschen Herkunft entgegengebracht wurden.

"Ich bleibe eine Jeckete"

Wie schafften sie es, das Alte und das Neue miteinander zu vereinen? Oda Kissinger sagt dazu: "Meine Heimat ist heute hier. Ich bin heute absolut Israelin mit deutschen Wurzeln. Wenn ich hier Kinder bekommen habe und die Kinder beim Militär waren und die Enkel heute beim Militär sind und, wenn ich mit dem Land genug mitgemacht hab, dann fühle ich mich heute hier zu Hause. Aber wenn ich höre, dass es ein deutsches Theaterstück gibt, renn ich hin. Goethe, Schiller, Lessing, die hab ich angeschafft für unsere Bibliothek. Ich bin groß geworden mit der deutschen Kultur und sie steckt in mir. Ich bin geblieben eine Jeckete und werd es bleiben. Bis zum letzten Atemzug."

Aliza Falk war als Kind mit ihrer Familie von Berlin nach Woltersdorf gezogen: "Ich habe von diesem Ort soviel aufgenommen, was jetzt noch in mir ist, vor allem die Natur. Später war ich mit meinen Söhnen dort, wollte ihnen das Haus zeigen, das meine Eltern für uns Kinder gebaut haben. Es war überhaupt nicht beschädigt. Ich war nicht drin, das hab ich nicht gewagt. Ich weiß nicht, wer da jetzt wohnt, und ich wollte keine Unannehmlichkeiten haben. Aber rundherum die Natur – da ist nichts verändert. Der Wald, der Hügel, den wir mit dem Schlitten herunter gefahren sind. Es war eine schöne Kindheit dort."

Chaja Florentin aus Berlin wiederum gehört zu einer Gruppe alter Damen, die sich regelmäßig im Tel Aviver Café "Mersand" treffen, um die Fragen der jüngsten Ausgabe von "Wer wird Millionär?" durchzugehen. Dabei wundern sie sich, wie schnell sich manche Quizteilnehmer geschlagen geben müssen. Ein Zeitungsartikel über diese Jecketes brachte Moderator Jauch vor einiger Zeit dazu, dem Lokal einen Besuch abzustatten. In dem Buch erzählt Chaja Florentin von ihrer Skepsis gegenüber ihrem Herkunftsland: "Ich fahre nicht mehr nach Deutschland, ich spreche auch fast nie Deutsch", erzählt sie in dem Buch. "Eigentlich sehe ich auch kein deutsches Fernsehprogramm. Aber Günther Jauch kenne ich." Der Moderator hat sie bei der persönlichen Begegnung sehr beeindruckt.

Zu jeder Stadt, in der eine der Frauen aufgewachsen ist, liefert die Herausgeberin Informationen über die Geschichte der dortigen jüdischen Gemeinde. Dadurch erhält der Leser wertvolle Hintergrundinformationen. Diese werden ergänzt durch einen historischen Abriss und ein ausführliches Glossar.

Andrea von Treuenfeld, In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel. Geflohene Frauen erzählen ihr Leben, Gütersloher Verlagshaus, 240 S., EUR 22,99, ISBN: 978-3-579-06685-1

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