Gut informierte Kreise ließen durchblicken, dass Israel den jüngsten Kompromissvorschlag des deutschen Vermittlers Gerhard Konrad vom BND akzeptiert hat, während die Hamas neue Forderungen gestellt habe. Die Hamas verlangt die Freilassung von über tausend palästinensischen Gefangenen. Auf der Liste stehen die Namen der schlimmsten Massenmörder der "Zweiten Intifada". Die neuen Forderungen hätten die Bemühungen in eine Sackgasse geführt.
Kein anderes Land reagiert so empfindlich und rabiat, sowie ein Soldat lebendig in Feindeshand gerät. Der 1982 über dem Libanon abgestürzte und lebendig gefangen genommene Phantom-Navigator Ron Arad war jahrelang höchste Priorität israelischer Politiker.
Nach der Geiselnahme des Soldaten Nachschon Waxman in Ramallah 1994 startete das Militär eine waghalsige Befreiungsaktion. Diese endete mit dem Tod Waxmans und der Geiselnehmer. Der Fehler: Die Befreier wussten nichts von Vorhängeschlössern an der Tür. Die Verzögerung um wenige Sekunden kostete Waxman das Leben. Heute wagt niemand, die Verantwortung für eine gewaltsame Befreiung von Schalit zu übernehmen, weil es keine Erfolgsgarantie gibt.
Entführung von Regev und Goldwasser als "Kriegserklärung"
Am 12. Juli 2006 überfiel die Hisbollah im Libanon eine israelische Grenzpatrouille. Mehrere Soldaten wurden getötet, aber zwei wurden in den Libanon verschleppt: Eldad Regev und Ehud Goldwasser. Mit deutscher Vermittlung kam ein Gefangenenaustausch zustande. Doch anstelle der beiden Soldaten wurden zwei schwarze Särge auf den Asphalt bei dem Grenzübergang Ras el-Nakura gestellt.
Für Ehud Olmerts Regierung war die Entführung eine Kriegserklärung der Hisbollah. So begann der "Zweite Libanonkrieg". Die Hisbollah hatte die Entführung geplant – wegen Israels Überreaktion auf die Geiselnahme des Soldaten Gilad Schalit durch die Hamas drei Wochen zuvor.
Der israelische Reflex geht auf das mittelalterliche Prinzip zurück, für das Leben eines gefangenen Juden "ein ganzes Weltreich" zu zahlen. Die hohe Motivation und Kampfmoral israelischer Soldaten wird heute mit deren Gewissheit erklärt, dass der Staat Israel alles in seinen Kräften tue, sie freizukaufen, falls sie in Gefangenschaft geraten. Dazu gehört auch, ihre Leichen einem jüdischen Begräbnis zukommen zu lassen.
Tunnel ermöglichte Schalits Entführung
Gilad Schalit, am 28. August 1986 in Naharija nahe der Grenze zum Libanon geboren, diente wie sein älterer Bruder Joel bei der Panzertruppe. Der schüchterne und stets hilfsbereite Junge liebte Mathematik, Leichtathletik und Basketball. Am 25. Juni 2006 um 5:40 Uhr morgens eröffneten acht bewaffnete Palästinenser das Feuer auf seinen Panzer, wenige hundert Meter vom Länderdreieck Ägypten-Israel-Gazastreifen und Kibbutz Kerem Schalom entfernt. Die Kämpfer des "militärischen Arms der Hamas-Organisation" hatten unbemerkt unter dem Grenzzaun einen Tunnel im Sandboden gegraben und waren auf israelisches Territorium vorgedrungen.
Bei dem Überfall wurden mehrere Soldaten verletzt und zwei getötet. Über sie redet niemand mehr. Schalit, an der Schulter verletzt, wurde von den Kämpfern jener "Is a-Din el-Kassam-Brigaden" durch den Tunnel nach Rafah verschleppt. Seit 1.890 Tagen sitzt Schalit in Haft. Die Hamas gewährt ihm keine Besuche des IKRK (Internationale Komitee des Roten Kreuzes), wie es das internationale Kriegsrecht laut Genfer Konventionen vorsieht.
Schalit durfte drei Briefe und eine Audiobotschaft als Lebenszeichen verschicken. Am 2. Oktober 2009 zahlte Israel in Erwartung eines Gefangenenaustausches den Preis von 20 freigelassenen palästinensischen Gefangenen, um im Gegenzug ein 2:42 Minuten langes Video von Schalit zu erhalten. Gemäß israelischen Vorgaben musste er eine Tageszeitung in der Hand halten und einige Schritte gehen, um seinen Gesundheitszustand zu diagnostizieren. Seitdem existiert kein weiteres Lebenszeichen.
Solidaritätskundgebungen zum 25. Geburtstag
Für die Israelis ist Gilad Schalit ein Nationalheld. Es gab "Solidaritätsmärsche" mit Zehntausenden Teilnehmern. Seine Eltern, Noam und Aviva, kampieren auf dem Bürgersteig vor der Residenz des Premierministers. Sie setzen Netanjahu unter Druck, "jeden Preis" für die Rettung ihres Sohnes zu zahlen. Zeitungen veröffentlichen Reportagen über Schalits Mitschüler und Mitkämpfer. "Es ist schwer vorstellbar, dass seine Freunde ein normales Leben führen, während er weiterhin in Gefangenschaft sitzt", sagt Dagan Schocher, 27, Schalits Befehlshaber bei der Panzerbrigade 188. Am Sonntag feiern sie Schalits 25. Geburtstag feiern, den sechsten in Gefangenschaft. Solidaritätskundgebungen gibt es auch im Ausland, zum Beispiel in Siegen.
Gelegentlich demonstrieren israelische Terror-Opfer. Eine Freilassung der Massenmörder könnte weiteren Israelis das Leben kosten, argumentieren sie. Aber in Israel ist es nicht populär, Schalits Leben gegen potentielle Tote aufzurechnen.
Kontraproduktiver Druck
Der Entführte hat dank seines Vaters auch einen französischen Pass. Präsident Nicolas Sarkozy bemüht sich persönlich. Der Soldat wurde schon zum Ehrenbürger von Paris und Rom erklärt. Sein Foto hing als Großplakat am Pariser Bürgermeisteramt und am Kolosseum in Rom, um für Solidarität, Mitgefühl zu werben und Druck auf die Hamas auszuüben.
Doch der weltweite öffentliche Druck ist auch kontraproduktiv. Die Hamas schraubt den Preis für ihre Geisel immer höher. Israel ist erpressbar. Für die Hamas ist Schalit Gold wert – als Lebensversicherung. Denn solange er sich in Geiselhaft befindet, wagt Israel keinen endgültigen Schlag gegen die Hamas, allein um nur nicht das Leben von Schalit zu gefährden.