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Kann man über den Holocaust schreiben?

HEIDELBERG (inn) - Es ist unausweichlich, dass die Schoah in Dichtung und Prosa thematisiert wird. Denn nur dadurch kann die Erinnerung an die Judenvernichtung wach bleiben. Diese Ansicht äußerte die israelische Autorin Nava Semel am Donnerstagabend bei einer Veranstaltung im Heidelberger Theater.

Im Jahr 1951 hatte der Soziologe Theodor W. Adorno den bekannten Satz gesagt: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Semel, eine Tochter von Überlebenden, entgegnete in Heidelberg darauf: "Der Holocaust wurde Menschen von anderen Menschen angetan – er ist nicht nur eine jüdische, sondern eine menschliche Erfahrung." Der Kampf gegen das Vergessen könne auch durch die Kunst unterstützt werden, sagte sie bei der Veranstaltung "Kann man über den Holocaust schreiben?", die von der Hochschule für Jüdische Studien und dem Heidelberger Theater organisiert wurde.

Als sie ihr erstes Buch, "Gerschona", einem deutschen Verleger anbieten wollte, fragte sie ihre Mutter, eine Auschwitz-Überlebende, um Erlaubnis. Diese befürwortete ihre Pläne: "Ich habe meinen Streit mit den Nazis, aber nicht mit der deutschen Kultur." Das Buch solle in einer deutschen Bibliothek existieren, und wenn es auch nur eine einzige Person lese und es kein Bestseller werde, fügte die Autorin hinzu. Sie schreibe für diese potentielle Person.

Semel kam nach eigenen Angaben aus einer "sehr typischen schweigenden Familie", sie erfuhr als Kind nichts über die Erfahrungen ihrer Eltern in der NS-Zeit. "Sie wollten den sehr zerbrechlichen Seelen der Kinder nicht schaden", deutet sie das Schweigen der Überlebenden heute. "Sie wollten, dass wir gesund aufwachsen." Die Schriftstellerin hält dies für eine kluge Entscheidung. Das Schweigen habe den Eltern eine neue Richtung gegeben. "So konnten sie funktionieren, heiraten, Kinder bekommen, sie in die Schule schicken." Es sei ein sehr spontane Reaktion auf das Leiden gewesen. Damals habe es kein psychotherapeutisches Netzwerk gegeben, in den ersten Jahren noch nicht einmal einen Staat Israel. "Sie mussten sich selbst heilen."

Doch die Erinnerungen, über die viele Überlebende nicht sprachen, befanden sich in einer "schwarzen Schachtel", erzählte Semel. Nachts konnten sie ihre Erinnerungen nicht kontrollieren. "Die schwarze Schachtel öffnete sich, die Dämonen kamen heraus." Manchmal sprachen sie Jiddisch, und die Kinder der "zweiten Generation" konnten die Vorgänge um sie herum nicht begreifen.

Schweigen durch Enkel gebrochen

Erst als die Überlebenden zu Großeltern wurden, konnten sie der Zukunft vertrauen. Der "Code des Schweigens" sei in den 50er und 60er Jahren gültig gewesen, meint die Schriftstellerin. Eine geheime Abmachung habe besagt: "Ihr fragt nicht und wir erzählen nichts". Nun sei diese Abmachung hinfällig geworden. Die bohrende Frage, auf die es keine Antwort gibt, verfolgt jeden Überlebenden: "Warum wurde ich gerettet und andere nicht?" Doch durch ihre Enkel hätten sie einen neuen Sinn für ihr Leben erhalten: die Familie. Dass die Enkel als freie Bürger in ihrem eigenen Land geboren wurden, gebe den Großeltern Sicherheit, fügte die Autorin hinzu. Die Annäherung zwischen einer Enkelin und ihrer Großmutter hat die Autorin in ihrem Buch "Und die Ratte lacht" thematisiert.

Der Holocaust ist nach Semels Erfahrung Teil der kollektiven Identität der Israelis – auch bei denjenigen, die diese Vorstellung ablehnen. Im Jahr 1990 brachte sie in New York, wo ihr Ehemann beruflich zu tun hatte, Zwillinge zur Welt. Sie waren demzufolge auch während des Golfkrieges nicht in Israel. Die Schriftstellerin erhielt Fotos von Angehörigen und Freunden, auf denen sie eine Gasmaske trugen – "und immer gab es einen Bezug zum Holocaust". Die Verunsicherung in dem einzigen Angriffskrieg, auf den Israel nicht reagiert hat, sei spürbar gewesen. Die Israelis wollten "nie mehr wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden". Die Briefe ergäben eine "unglaubliche Sammlung, die Ihnen zeigen kann, wie präsent der Holocaust ist". Der Geist des Holocaust schlafe oft, sei aber manchmal sehr wach.

Nava Semel wurde 1954 in Tel Aviv geboren. Bislang sind sieben ihrer Bücher in deutscher Übersetzung erschienen. Ihr Vater war in Europa in der zionistischen Bewegung und im Widerstand, in Israel war er Abgeordneter in der Knesset. Ihre Mutter erzählte erst von ihren Erfahrungen in der NS-Zeit, nachdem Semel das Buch "Gläserne Facetten" über die "zweite Generation" veröffentlicht hatte. Der Bruder der Schriftstellerin ist der Sänger Shlomo Artzi – er hat Israel im Jahr 1975 beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson (heute: Eurovision Song Contest) vertreten.

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